"Still Life" Doppelt killt besser

Frauen werden auf bestialische Weise ermordet - 1929 in Prag, 2004 in Chicago. Im Krimi-Adventure "Still Life" muss der Spieler Ermittlungen in Vergangenheit und Gegenwart führen.

Ihr Kollege hat gekotzt, und auch sie selbst muss sich sehr zusammenreißen, um die Fassung zu wahren. Victoria McPherson steht bei einer grausam zugerichteten Leiche. Es ist die fünfte Frau, die von demselben Täter abgeschlachtet worden ist. Victoria würde am liebsten wegrennen, doch sie kann nicht: Sie ist beim FBI. Ihr Job ist es, den Täter zu fangen. Doch sie ist mit ihren Kräften fast am Ende, zu groß der Druck der Öffentlichkeit und der Vorgesetzten, zu groß ihre Angst um mögliche weitere Opfer. Als sie das Tagewerk aus Spurensicherung und Recherche abgeschlossen hat, fährt sie zu ihrem Vater, um mit ihm wenigstens ein paar vorweihnachtliche Stunden zu verbringen und sich zu erholen. Beim Stöbern auf dem elterlichen Dachboden entdeckt Victoria ein altes Tagebuch ihres Großvaters. Gus McPherson beschreibt darin seine Erlebnisse als Privatdetektiv im Prag des Jahres 1929. Was Victoria zur Ablenkung zu schmökern beginnt, offenbart bald gespenstische Parallelen zwischen einer Reihe von Morden in Prag und Vickys Fall im heutigen Chicago. Und während Victoria in das Leben ihres Opas eintaucht, klingelt schon wieder das Telefon. Eine weitere Frauenleiche wurde gefunden...

Mitreißend - ganz ohne Action

Es soll nicht die letzte Frauenleiche sein, die der Spieler von "Still Life" zu sehen bekommt. Nicht nur, weil Vickys Serienmörder sehr umtriebig ist. Auch die Geschicke von Gus bei seiner Jagd nach dem Ripper von Prag muss der Spieler selbst lenken. Diese doppelte Serienmörderhatz spielt sich spannend und mitreißend - obwohl in einem klassischen Point&Click-Adventure naturgemäß keine Action aufkommt. Doch die düstere Atmosphäre, die elegante Verwebung der beiden Erzählstränge und präzise eingesetzte, haarsträubende Filmsequenzen ziehen schnell in ihren Bann. Außerdem wachsen einem die Figuren ans Herz: Victoria, auf der einen Seite jung, dynamisch und mit spitzer Zunge versehen, auf der anderen Seite voller Versagensängste. Großvater Gus, höflich, grundsolide - und liiert mit einer Prostituierten. Polizeioffizier Miller, Victorias Partner, den am Tatort grundsätzlich seine Nerven und sein Mageninhalt verlassen. Die Gerichtsmedizinerin Claire, die für Victoria so etwas wie eine Ersatzmutter ist - und die deswegen Ärger mit ihrer eifersüchtigen Tochter hat. Das Potenzial für menschliche Abgründe und Verstrickungen ist also vorhanden. Und die wirklich irren Gestalten wurden noch gar nicht erwähnt...

"Still Life"

Hersteller/Vertrieb

Microids/Flashpoint

Genre

Adventure

Plattform

PC, Xbox

Preis

35 Euro (PC), 45 Euro (Xbox)

Altersfreigabe

ab 16 Jahren

Rätselrezepte

"Still Life" wäre kein Adventure, wenn es nur eine Geschichte erzählen würde. Rätsel gibt es auch. Häufig geht es um Ermittlungsarbeit: Fingerabdrücke nehmen, Spuren sichern, Fotos machen, Schlösser öffnen, Hinweise sammeln. Der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben ist eher gering, nur zwei, drei richtig harte Nüsse sind dabei. Zum Beispiel: Victoria muss nach einem kryptischen Rezept ihrer Großmutter Weihnachtsplätzchen backen.

Fäden ziehen will gelernt sein

So gelungen "Still Life" inhaltlich und erzählerisch ist - einige technische Macken trüben das Stilleben. Die Hintergrundbilder sind fantastisch gestaltet und werden durch wabernde Nebel, plätschernde Wasseroberflächen und sich hinter Gardinen bewegende Schatten gekonnt zum Leben erweckt. Die Figuren allerdings sind vergleichsweise farblos und bewegen sich manchmal so ungelenk, als würde ein schlechter Marionettenspieler die Fäden ziehen. Die Steuerung ist unnötig kompliziert: Will man beispielsweise eine Tür aufschließen, muss man mit einem Rechtsklick einen Inventarbildschirm aufrufen, dort den Schlüssel markieren und dann auf ein Symbol für "Benutzen" klicken. Wie es einfacher geht, haben die "Still Life"-Schöpfer von Microids in ihren "Syberia"-Adventures bereits selbst gezeigt. Eher Geschmackssache ist die Dialogsteuerung: Es gibt keine vorformulierten Sätze, die für das Gespräch zwischen Vicky/Gus und anderen Figuren ausgewählt werden können. Stattdessen gilt: Ein Klick auf die linke Maustaste führt das Gespräch in beruflichen Belangen weiter, ein Klick auf rechts bringt Privates zur Sprache. Damit bleibt dem Spieler selbst überlassen, wie viel Seifenoper er erleben möchte. Allerdings gibt es praktisch keine Einflussmöglichkeit auf den Gesprächsverlaufs. Für die Lösung des Falles sind nur die beruflichen Dialoge notwendig.

Die zwischenmenschlichen Aspekte der Figuren zu vernachlässigen, wäre aber schade. So werden die Charaktere mit Leben erfüllt - und man leidet noch mehr mit, wenn sie selbiges aushauchen. Hobbykriminalisten und Adventure-Fans sollten sich das nicht entgehen lassen. Trotz kleiner technischer Schwächen, geringem Schwierigkeitsgrad und kurzer Spieldauer ist "Still Life" ein gelungener Trip in düstere Gebäude, unfeine Gesellschaften und kranke Hirne.

Ralf Sander

PRODUKTE & TIPPS