Editorial Die Türken vor den Toren Brüssels

Kann ein Land, in dem bis heute Minderheiten unterdrückt und Frauen diskriminiert werden, Teil unserer Wertegemeinschaft werden, die sich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hat? +++ Hätten Sie das gedacht? Fritz Vahrenholt, Kanzlerberater und Chef eines der größten deutschen Hersteller von Windkraftanlagen, plädiert im stern-Interview dafür, Kernkraftwerke länger in Betrieb zu lassen.

Liebe stern-Leser!

Hätten Sie das gedacht? Fritz Vahrenholt, Kanzlerberater und Chef eines der größten deutschen Hersteller von Windkraftanlagen, plädiert im stern-Interview dafür, Kernkraftwerke länger in Betrieb zu lassen. Eine Forderung, die einen zentralen Erfolg von Rot-Grün infrage stellt: den gesetzlich verankerten Atomausstieg. Vahrenholt, früher SPD-Umweltsenator in Hamburg, ist nicht der Einzige. Angesichts gestiegener Spritpreise und einer dauerhaften Ölkrise wächst offenbar wieder die Verlockung einer Energieproduktion, um deren Rohstoffe keine Kriege geführt werden, deren Preise nicht vom Weltmarkt abhängen und deren Kraftwerke kein CO2 ausstoßen. Und: Deren nach wie vor enorme Gefahren zunehmend abstrakt scheinen - schließlich liegt Tschernobyl schon 18 Jahre zurück. stern-Reporter haben im In- und Ausland ausgelotet, welche Chancen der von CSU-Generalsekretär Markus Söder geforderte "Ausstieg aus dem Ausstieg" eigentlich hat.

Nächsten Sonntag

ist Europawahl. Das einzige Thema, das bundesweit spannende Debatten hätte auslösen können, haben die Parteien weitgehend ausgespart: Kann und darf die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden?

Kann ein Land, in dem bis heute Minderheiten unterdrückt und Frauen diskriminiert werden, Teil unserer Wertegemeinschaft werden, die sich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hat? Sollen wir die Nachfahren des muslimischen Osmanenreiches, das 450 Jahre lang Krieg gegen das christliche Europa führte und einmal sogar vor den Toren Wiens stand, mit offenen Armen empfangen?

Ja, gerade deshalb. Denn nichts hat die Türkei in den vergangenen Jahren so rasant und so positiv verändert wie die Aussicht, endlich in die EU aufgenommen zu werden. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat die größte Reformwelle seit der Ära Atatürks eingeleitet und bemüht sich ernsthaft um Demokratisierung. Die Todesstrafe ist abgeschafft, der Ausnahmezustand ist aufgehoben, die Antiterrorgesetze sind entschärft, die Macht der Generale ist beschnitten - und mit der Wirtschaft geht es bergauf.

Wenn die EU den Türken in diesem Jahr die Tür vor der Nase zuschlägt, macht sie nicht irgendeine vage Zusage rückgängig, sondern sie bricht ein schon 1963 gegebenes Versprechen. Und dies ausgerechnet gegenüber dem einzigen islamischen Land, das sich seit mehr als 80 Jahren für Europa wahrhaft begeistert. Und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die Beziehungen zwischen dem Westen und der "umma", der weltweiten Gemeinde der Muslime, kaum schlechter sein könnten.

"Die Türkei und die EU brauchen einander. Der Gewinn ist enorm", meint der britische Europaminister Denis MacShane. "Jeder in Europa, der nicht verrückt, schlecht oder dumm ist, sollte den Willkommensteppich für die Türkei ausrollen."

Wir tun es in diesem Heft. Mit einer Analyse der Türkeidebatte in Deutschland, mit dem Pro und Contra von 20 prominenten Deutschen und mit einer großen Reportage über das "Wunder am Bosporus".

Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn

print