Liebe stern-Leser! Es ist schier unglaublich, in welchem Tempo George W. Bush die Solida-rität zerschlägt, die nach dem 11. September mühsam errichet worden ist. Das diplomatische Power-Play seines Außenministers, die große Anti-Terror-Koalition über alle weltweiten Gegensätze hinweg - alles schon auf dem Müllplatz der Geschichte? Notfalls will Amerika alleine Krieg gegen Saddam Hussein führen, fraglos einer der finstersten Diktatoren dieser Zeit. Ein Feldzug brächte keinen Deut mehr nationale Sicherheit, aber mehr internationale Unsicherheit: Es würde Tausende Begräbnisse geben, Rache schwörende Massen in der arabischen Welt, Zerrüttung mit Europa, Russland und China, einen explodierenden Ölpreis, der die globale Ökonomie gefährdete. Und UN-Generalsekretär Kofi Annan könnte seinen Job aufgeben wie ein Stationsvorsteher, dessen Bahnhof wegen Bedeutungslosigkeit geschlossen wird. Nach der raschen Beseitigung des Taliban-Regimes will Washington alles so aussehen lassen, als sei Krieg, das ungeheuerlichste Macht-Mittel, wohl erwogen. Mein Misstrauen gegen diese Art von Politik sitzt tief! Sollten die Sandkastenspiele im Pentagon ernst gemeint sein, dann dauert es vielleicht nur noch wenige Monate, bis die ersten irakischen Gefangenen in Guantánamo eintreffen. Was sich in dem umstrittenen US-Gefangenenlager auf Kuba derzeit abspielt, haben stern-Reporter Teja Fiedler und Fotograf Perry Kretz beobachtet – soweit das unter der strengen Aufsicht amerikanischer Soldaten möglich war. Die beiden wurden fast so gut bewacht wie die Gefangenen (Seite 34 in der Printausgabe). Erfreulicheres: Die Juroren des World Press Fotowettbewerbs 2001 in Amsterdam prämierten fünf Aufnahmen, die vergangenes Jahr im stern veröffentlicht wurden. In der Kategorie „Aktuelle Reportage – Menschen“ gewann der dänische Fotograf Jan Grarup. Er hatte in unserem Auftrag Kinder in der West Bank fotografiert (stern Nr. 26/2001: „Der Tod – ein Kinderspiel“). Das Bild entstand während einer Prozession für einen von Israelis erschossenen Palästinenser. An diesem Morgen drängte sich Grarup in die trauernde Menschenmenge, bis er die beiden Jungen sah, die im Jeep direkt vor der Leiche standen: Der kleinere, kaum sechs Jahre alt, reckte sich mit kindlichem Eifer, um über die Windschutzscheibe zu schauen. Der andere trug männliche Entschlossenheit zur Schau, während seine kleinen Hände ein Maschinengewehr umklammerten. Die Jungen im Jeep wurden das wichtigste Bild seiner Reportage – auch wenn er mit ihnen nie gesprochen hat: „Es wirkt wie eine Ikone des ganzen Konfliktes.“ Ein Konflikt, in dem schon siebenjährige Jungen wild entschlossen sind, sich für ihr Volk zu opfern. Die Redaktion freut sich mit Grarup und den anderen ausgezeichneten Kollegen, die mutig und einfallsreich einen Augenblick Wirklichkeit festgehalten haben. Wir setzen auch in Zukunft auf die Fotografie – Bilder sind die Seele des stern. Schauen Sie sich eine Auswahl der World Press Photos ab Seite 20 (in der Printausgabe) an. Sie werden sehen: Fotos sind unschlagbar, wenn es darum geht, Gleichgültigkeit zu durchbrechen, Missstände, Leid und Freude festzuhalten.
Herzlichst Ihr
Andreas Petzold Chefredakteur