Mein Sohn, zweieinhalb, schlägt mir das Eis aus der Hand, es fällt zu Boden. Er wollte keine Waffel, sondern einen Becher, auch wenn er vor 30 Sekunden noch anderes behauptet hat. Er schreit, ich wische mit Servietten den Boden und weine.
Ich weine, weil mir das Bild aus Gaza in den Kopf schießt, das ich am Vormittag gesehen habe. Eine Frau trägt ein Kleinkind vor sich, es hat einen Müllbeutel als Windeln umgebunden, seine Rippen drücken sich durch die Haut, die Arme dünn wie Ästchen. Ich ahne seine Schmerzen, den krampfenden Magen, die Hilflosigkeit seiner Mutter, die Panik, die Verzweiflung, die Todesangst. Und ich habe gleichzeitig keine Ahnung. Keines dieser Gefühle kenne ich. Wieso müssen diese beiden all das erleben und wir nicht? Wieso kann ich sie nicht da wegholen? Wieso hat mein Kind das Recht, wählerisch bei der Waffel-Becher-Frage zu sein, während ein anderes, vielleicht am selben Tag geboren, in diesen Stunden verhungert?
Wie wahrscheinlich jedem sind mir Kriege und Katastrophen immer schon nah gegangen. Mal mehr, mal weniger mehr, je nachdem, wie schnell der eigene Lebensstrudel sich gerade drehte, wie zugänglich die Bilder waren, wie nah dran ich mich fühlte. Überhaupt: Diese ganze bescheuerte Empathie-Triage, die man jeden Tag vollziehen muss und an die man sich irgendwann gewöhnt, denn es gibt ja immer Elend und Leid, es ist ja nie alles gut.
Aber momentan, gerade jetzt, ist es kaum mehr auszuhalten. Ich habe Angst, das zu schreiben, weil es nicht um mein Gefühl geht und gehen soll. Nur muss man es nicht trotzdem teilen? Oder ist das nur sinnvoll, wenn man auch einen Vorschlag hat, ein Angebot zu Veränderung? Ich weiß es ehrlich nicht.
Ich googele "Wie Gaza helfen?"
Nachdem ich die Bilder gesehen hatte, habe ich das Naheliegendste und Lächerlichste getan, was man in einer Überforderungssituation tun kann: gegoogelt. "Wie Gaza helfen?" Danach habe ich, noch absurder, kindlich fast, der Bundesregierung geschrieben und Friedrich Merz: Bitte, bitte helfen Sie, das zu stoppen. Ich habe Kollegen und Freundinnen geschrieben: Was können wir tun? Dann musste ich zum Kindergarten.
Ich frage mich, wieso es mich jetzt und in diesem Fall so besonders heftig erwischt. Kommt das mit dem Alter? Liegt es daran, dass ich mittlerweile ein Kind habe? Bin ich seither stärker verbunden mit der Welt, mit anderen Müttern, anderen Kindern? Liegt es daran, dass dieser Krieg vergleichsweise nah ist? Dass die Menschen die gleiche Hautfarbe haben wie ich (hoffentlich nicht, aber fragen muss man es sich doch, nicht)?
Und schon ist alles wieder selbstreferenzieller Scheiß.
Es ist egal, was ich fühle.
Es ist egal, dass ich weine.

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So können Sie helfen
Die Menschen in Gaza brauchen humanitäre Hilfe. Dieser Link führt Sie zum Spendenformular der Stiftung stern – Hilfe für Menschen e.V. Wir leiten Ihre Spende an renommierte Organisationen weiter, die dafür Sorge tragen, dass die Unterstützung vor Ort ankommt.
Ich kann zur nächsten Demo gehen, kann spenden, ich kann mich ablenken, dankbarer sein, in meinem kleinen gemütlichen Leben. Ich kann mich in Gedanken entschuldigen bei dieser Mutter, dafür, dass ich das Glück hatte, hier zu leben, und sie das unendliche Unglück, dort zu sein.
Ich kann meinem Kind ein neues Eis kaufen, dieses Mal im Becher. Ich kann machen, was ich will. Es ändert nichts.
Transparenzhinweis: Seit Veröffentlichung dieses Bildes durch die türkische Nachrichtenagentur Anadolu am 21. Juli haben mehrere Medien, unter anderem die New York Times, über Vorerkrankungen des Kindes auf dem Foto berichtet. Wir haben die Informationen über eine Entwicklungsstörung, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes am 24. Juli noch nicht bekannt waren, in der Bildunterschrift ergänzt, um unseren Leserinnen und Lesern mehr Kontext zu dem Foto zu geben.