Schlaff und ermattet hängen Berlins Politiker in den Ringseilen. Müde vom Klammern und gelegentlichem Schlagabtausch ist in der Großen Koalition beidseitig das Handtuch geworfen worden. Man mag nicht mehr kraftvoll regieren, neue Themen anpacken oder Visionen entwickeln.
Angela Merkel hat das längst registriert. Ab und zu schwingt sie in der Union oder im Kabinett noch mal kurz die Keule, um Streit zu schlichten. Aber sie ist der unpopulären Innenpolitik weit entrückt. Außenpolitik ist spannender und entspannender, das hat noch jeder Bundeskanzler schnell schätzen gelernt. Und ein außenpolitisches Lieblingsthema hat Angela Merkel auch. Als EU-Ratspräsidentin traf sie vergangene Woche Wladimir Putin nahe der Wolgastadt Samara und kritisierte sogleich den Umgang der Russen mit Oppositionellen. Sie habe jedes Verständnis für die Festnahme von Gewalttätern. "Aber wenn jemand nichts gemacht hat, sondern nur auf dem Weg zu einer Demonstration ist, ist das aus meiner Sicht noch mal eine andere Sache", giftete sie. Verstimmt konterte Putin, auch in Deutschland gebe es solche "Maßnahmen". Damit meinte er die Razzien in den Wohnungen von G-8-Gegnern in Hamburg (stern Nr. 21/2007) - Treffer in die offene Flanke der deutschen Delegation.
Wir lernen, dass übereifriges Vorgehen auch uns politischen Kredit kostet. Und dass beispielsweise vorbeugende Festnahmen, wofür man im Behördendeutsch das schöne Wort "Unterbindungsgewahrsam" erfunden hat, sparsam bis gar nicht angewendet werden sollten. Denn damit bewegt sich auch eine offene Gesellschaft wie Deutschland hart am Rand der demokratischen Legitimation. Allerdings - die durchsichtige Retourkutsche des russischen Präsidenten ist billiger Populismus. Denn anders als in Russland gibt es in Deutschland Institutionen, die Schieflagen korrigieren. Gerichte, politische Opposition und manchmal auch Medien. Damit das funktioniert, braucht eine Gesellschaft verlässliche Pfeiler wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Selbstbestimmungsrecht der Bürger. All das fehlt in Putins Reich.
Dass Angela Merkel diesen Missstand in Samara diplomatisch, aber deutlich auf den Tisch packte, ist ihr hoch anzurechnen - und die logische Fortsetzung ihrer Guantánamo- Attacke gegen Bush während ihrer Washington-Visite im Januar vergangenen Jahres. So freimütig und voll innerer Überzeugung ist ihr Vorgänger im Kanzleramt selten aufgetreten. Aber man muss Merkels Menschenrechtsattacke auch als kleinen taktischen Kniff werten: Mit der Distanz zu Putin bringt sie Polen und Tschechen auf ihre Seite, und das kann helfen, wenn sie demnächst einen neuen Anlauf auf die EU-Verfassung nimmt.
Den Jeanne-d’Arc-Stil kann die Kanzlerin allerdings nur dann glaubwürdig pflegen, wenn im eigenen Land die Grundrechte geachtet werden. Merkels Haltung wird angreifbar, wenn beispielsweise vor dem G-8-Gipfel wild gewordene Strafverfolger fragwürdige Aktionen starten. Für Gewalttäter gibt es kein Pardon - unbestritten! Aber friedliche Demonstranten sollten in Heiligendamm so protestieren dürfen, dass ihre Botschaft die Adressaten auch erreicht.
Herzlichst Ihr
Andreas Petzold