Liebe Frau Peirano,
ich, 30, habe oft das Gefühl, nicht wirklich frei zu sein von dem, was in meiner Kindheit passiert ist. Mein Vater hat unsere Mutter und auch uns Kinder (mich und meine kleine Schwester) verprügelt, wenn er betrunken war oder ihm irgendetwas nicht gepasst hat.
Meine Mutter streitet bis heute ab, dass es oft passiert und dass es schlimm war. Aber ich habe deutliche Erinnerungen daran, dass ich gesehen habe, wie er sie mit den Fäusten ins Gesicht geschlagen hat oder sie verdroschen hat, als sie schon auf dem Boden lag.
Mehrmals (ungefähr fünf- bis zehnmal) bin ich dazwischen gegangen und habe mich vor meine Mutter gestellt. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals war, aber vielleicht zwölf, 13 Jahre alt. Mein Vater hat dann von meiner Mutter abgelassen und mich geschlagen, weil ich mich eingemischt habe.
Oft hat mein Vater mich oder meine Schwester geschlagen, wenn unsere Mutter aus dem Haus war und uns bedroht, dass wir nichts erzählen sollen, sonst würde es noch mal was setzen. Ich hatte ständig Angst vor meinem Vater, und seit unsere Eltern sich endlich trennten, weil mein Vater eine andere Frau hatte (da war ich 19), habe ich kaum noch Kontakt zu ihm gehabt, nur auf großen Familienfeiern.
Ich habe aber bis heute das Gefühl, meine Mutter beschützen zu wollen. Ich rufe sie jeden Tag an, auch manchmal öfter am Tag. Und ich mache mir Sorgen, wenn sie krank ist und ziehe dann zu ihr, um sie zu pflegen, obwohl ich 200 Kilometer von ihr entfernt wohne. Ich fühle mich eigentlich nicht wirklich frei für eine feste Partnerschaft, weil ich immer mit meiner Mutter beschäftigt bin. Meine größte Angst ist es, sie zu verlieren.
In letzter Zeit habe ich aber durch Gespräche mit Freundinnen gemerkt, dass ich nicht wirklich verstehe, warum sie sich das früher angetan hat und meinen Vater nicht verlassen hat. Ich kann das nicht verstehen, und wenn ich sie darauf anspreche, weicht sie aus und sagt, dass es ja nur selten vorgekommen ist und er auch viele guten Seiten hatte (zum Beispiel hat er gut verdient und wir konnten uns viel leisten).
Ich bin ehrlich gesagt wirklich verwirrt und ich drehe mich im Kreis.
Was raten Sie mir? Eine Therapie?
Viele Grüße
Sandra V.
Liebe Sandra V.,
es tut mir sehr leid für Sie, dass Sie in Ihrer Kindheit Gewalt erlebt haben! In meiner Praxis höre ich öfter Geschichten von häuslicher Gewalt in ihren verschieden (und immer hässlichen) Formen. Mal schlagen die Eltern oder ein Elternteil die Kinder und der andere Elternteil lässt es geschehen und rechtfertigt es mitunter noch ("Du warst ja auch frech!"), und mal ist es ein Elternteil (in der Regel der Vater), der die Mutter und die Kinder verprügelt.
Die Folgen davon sind schwerwiegend und sehr komplex. Vordergründig ist das Thema, dass Ihr Vater Sie nicht beschützt hat, sondern dass von ihm eine reale Gefahr für Sie, Ihre Schwester und die Mutter ausging. Nicht selten eskaliert die Gewalt mal so stark, dass es zu schweren körperlichen Verletzungen oder zum Tod kommt. Zu beobachten, wie der Vater (der einen eigentlich beschützen sollte), die eigene Mutter verprügelt, ist traumatisierend. Es stellt eine schwere psychische Überforderung dar, von Gefühlen der (Todes-) Angst und Hilflosigkeit überflutet zu werden. Solche wiederkehrenden traumatischen Ereignisse verändern Gedankenmuster im Gehirn, und das ist schädlich.
Veränderte Gedankenmuster im Falle häuslicher Gewalt:
- Aus "Ein Vater sollte seine Familie beschützen" wird "Mein Vater ist eine gefährliche Bedrohung" und "Ich muss meine Mutter vor meinem Vater beschützen."
- Aus "Eine Mutter gibt Halt und ist ein Vorbild" wird "Ich muss mich um meine Mutter kümmern", "Meine Mutter sagt nicht die Wahrheit" und "Sie zeigt mir nicht, wie man sich in Sicherheit bringt."
- Aus "Ich kann mich zu Hause sicher fühlen" wird "Zu Hause ist es gefährlich. Jeden Moment kann etwas Furchtbares passieren. Besser, ich lerne die Anzeichen zu lesen und zu ahnen, wann es wieder passiert."
- Aus "Als Kind darf ich mich auf mich und meine Bedürfnisse und meine Entwicklung konzentrieren" wird "Ein Kind soll ständig den Vater auf Alarmzeichen untersuchen und die Mutter beschützen."
- Aus "Wenn man Probleme hat, holt man sich professionelle Hilfe" wird "Probleme werden verleugnet und vertuscht. Auf keinen Fall wird die Polizei oder das Jugendamt geholt!"
Bei Kindern ist das Gehirn noch sehr plastisch - gedankliche Muster werden erst durch die Erfahrungen erlernt. Deshalb kann durch die traumatischen Erfahrungen und durch den Umgang der Eltern damit im Gehirn eines Kindes viel an Werten, Gedankenmustern und Handlungsplänen durcheinander geraten. Traumatische Ereignisse, insbesondere wenn sie einem durch nahe stehende Menschen zugefügt werden, überfluten das Gehirn mit zu vielen widersprüchlichen und bedrohlichen Eindrücken. Unter Stress setzt zum Beispiel der Teil, der die rechte und die linke Gehirnhälfte verbindet (Corpus Callosum) aus. Dadurch können die emotionalen und bildlichen Eindrücke nicht ganzheitlich mit Handlungsplänen oder Werten verknüpft werden ("Das ist nicht ok, was hier geschieht, wir brauchen Hilfe"). Es setzen Reaktionen wie Erstarren (Freeze) ein, die handlungsunfähig und hilflos machen.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Wenn das traumatische Ereignis vorbei ist, ist es wichtig, darüber zu sprechen und das Trauma zu verarbeiten. Das war in Ihrer Familie nicht möglich, denn Ihre Mutter hat das traumatische Geschehen im Nachhinein (und bis heute) verleugnet oder verharmlost. So hat sie dazu beigetragen, dass die Situationen sich immer wiederholen konnten und Sie letztlich von ihr auch gelernt haben, dass man ohnmächtig ist. Denn anscheinend hat Ihre Mutter Ihnen, ohne es jemals auszusprechen, klar gemacht, dass man auf keinen Fall die Polizei holt, wenn der Vater gewalttätig ist. Das wäre in Ihrer Familie Verrat gewesen.
Dadurch gerieten Sie in eine Zwickmühle: Wenn Sie sich um sich gekümmert hätten (Ihr Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und emotionaler Sicherheit), hätten Sie die Polizei rufen müssen oder sich zumindest selbst in Sicherheit bringen müssen. Dann hätten Sie aber Ihre Mutter im Stich lassen müssen, oder Sie hätten durch den Notruf Ihren Vater noch mehr gereizt und er hätte das an Ihrer Mutter oder Ihnen ausgelassen. Außerdem wäre Ihre Mutter auf Sie wütend gewesen, wenn Sie das Familiengeheimnis publik gemacht hätten. Im schlimmsten Fall hätten Sie Angst haben müssen, dass Ihre Familie zerbricht. Wie soll man sich da entscheiden, mit zwölf, 13 Jahren? Es gibt keine gute Lösung, und das macht ohnmächtig und hilflos (man nennt es auch erlernte Hilflosigkeit).
Ich gehe davon aus, dass Sie die traumatischen Ereignisse und die daraus resultierenden Gedankenmuster (siehe oben) sozusagen eingefroren und in Ihrem Traumagedächtnis abgespeichert haben. Dort sind sie auf einer unbewussten und teils bewussten Ebene noch bedrohlich, aber nicht wirklich leicht zu verändern, weil es sich ja um eine Art "Eisblock" handelt. Diese Muster machen Ihnen das Leben schwer, und Sie bestimmen auch das jetzige Verhältnis zu Ihrer Mutter. Es ist ja eine Art Umkehrung der Rollen: Sie sorgen sich um sie und fühlen sich nicht frei, während Ihre Mutter von Ihnen umsorgt wird und fordert.
Durch Ihre Traumatisierung wäre meine klare Empfehlung, dass Sie sich in eine vertrauensvolle Psychotherapie begeben, und zwar bei einer/einem Therapeut*in mit Ausbildung in Traumatherapie. In der Therapie wird dann zum einen an der Vergangenheit gearbeitet und den Auswirkungen auf heute, und in einem bestimmten Therapieabschnitt wird eine Traumakonfrontation durchgeführt, zum Beispiel mit EMDR (nachzulesen unter diesem Link) oder anderen Therapieformen (nachzulesen auf dieser Seite).
Ich würde vor Therapiebeginn auch raten, sich schon einmal in das Thema häusliche Gewalt einzulesen. Empfehlenswert ist zum Beispiel
"Prügel: Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt" von Antje Joel.
Es ist erfahrungsgemäß sehr hilfreich, wenn man sich mit den Ursachen seiner Probleme befasst und merkt, dass es anderen Menschen, die vergleichbare Erfahrungen gemacht haben, auch ähnlich geht. Das geschieht auch durch das Lesen des Buches, denn offensichtlich hat die Autorin ähnliche Geschichten zusammen getragen.
Ich hoffe, dass Sie bald eine/n gute Therapeut*in finden und sich mit diesen schmerzhaften Erfahrungen auseinander setzen, Ihre traumatischen Erfahrungen aufarbeiten und neue gedankliche und emotionale Muster aufbauen können. Dann wird sich auch klären, wie Sie den Kontakt zu Ihrer Mutter in Zukunft gestalten wollen und wie Sie sich besser auf Ihr eigenes Leben konzentrieren können.
Herzliche Grüße und alles Gute für Sie
Julia Peirano