Liebe Frau Dr. Peirano,
meine Frau war schon immer recht ängstlich und hat sich Sorgen gemacht, wo ich eigentlich keinen Anlass dafür gesehen habe. Sie ist ein sehr hygienischer Typ und nicht bereit, mal aus ihrer Komfortzone heraus zu gehen. So bin ich mit den Kindern immer zähneknirschend alleine auf eine Berghütte gefahren, weil meine Frau sich kein WC mit anderen teilen wollte und nicht bereit war, mal einige Tage auf eine Dusche zu verzichten.
Es gibt bei uns diverse Putztücher, und wehe, ich wische mal die Holzoberfläche mit dem Tuch für die Spüle… dann hält sie mir einen langen Vortrag.
Doch jetzt, mit dem Coronavirus in Deutschland und auch recht verbreitet bei uns in Baden-Württemberg, ist die Hysterie meiner Frau ins Unerträgliche gestiegen (Anmerkung von Julia Peirano: die Zuschrift stammt vom 13.3.). Sie starrt den ganzen Tag auf ihren Bildschirm und liest Corona- Nachrichten. Sie hat den ganzen Keller ausgestattet mit Putzmitteln, Nahrung für mehrere Monate, hautschädigenden Desinfektionsmitteln. Obwohl es nicht empfohlen wird und wenig Sinn macht, putzt sie mehrfach täglich (!) die Toilette und das Badezimmer, wäscht die Bettwäsche andauernd und achtet bei mir und den Kindern auf jedes kleinste Erkältungszeichen.
Aus dem Haus gehen wir so gut wie nicht mehr, und wenn, macht sie sich die ganze Zeit große Sorgen und ist nervös, ob einer von uns sich angesteckt haben könnte. Ich komme mit logischen und vernünftigen Gesprächen nicht mehr an sie heran. Sie wirft mir vor, dass ich sie nicht verstehe und ihre Sorgen abtue. Sämtliche Urlaube für das ganze Jahr hat sie bereits abgesagt.
Ich habe sie gefragt, warum sie sich solche Sorgen macht, und sie nennt eine lange Liste von möglichen Bekannten und Verwandten, denen die Krankheit gefährlich werden könnte. Unter anderem auch ihre 82-jährige Mutter, mit der sie ein sehr enges - aus meiner Sicht nicht erwachsenes - Verhältnis hat. Die Mutter meiner Frau hatte eine lebensgefährliche Krebserkrankung, als meine Frau in die Grundschule ging. Ich frage mich, ob die Ängste daher kommen.
Auf jeden Fall halte ich es kaum noch mit meiner Frau aus und hoffe inständig, dass dieser Ausnahmezustand bald vorbei ist. Ich verweigere eigentlich das Gespräch mit meiner Frau, weil es sich über kurz oder lang immer nur um Corona dreht.
Wie kann ich meine Frau zur Vernunft bringen?
Viele Grüße,
Sebastian K.
Lieber Sebastian K.,
In meiner Praxis ist das Coronavirus fast in jeder Sitzung Gespräch. Bei fast jedem löst der eine oder andere Aspekt der Situation Ängste aus. Manche machen sich Sorgen, weil sie selbst gesundheitlich vorbelastet sind (Asthma, Einnahme von Immunsuppressiva, Krebs, o.a.), andere machen sich Sorgen um die finanziellen Einbußen, die mit dem Verdienstausfall (z.B. Betreiber von Sportstudios, Clubs, Musiker, Freiberufler) einhergehen können, andere wiederum ärgern sich darüber, dass sie nicht frei reisen oder ausgehen können wie gewohnt. Die Hamsterkäufe und das Horten von Masken sprechen auch eine deutliche Sprache, wie groß die Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung ist.
In fast jeder Partnerschaft kommt es zu Reibereien und Belastungen. Bei einem Paar ist die Frau untröstlich, weil sie ihre hart erarbeiteten Urlaube in Italien absagen und statt dessen auf eine kalte Nordseeinsel muss.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Bei anderen Paaren gibt es Diskussionen über die Gefahreneinschätzung: Einer nimmt es lockerer, der andere sieht es strenger. Die Nerven liegen zum Teil blank.
Aber so große Sorgen wie bei Ihrer Frau sind mir auch in meiner Praxis bisher nicht begegnet, und ich kann mir gut vorstellen, dass Sie mit Ihrer Geduld am Ende sind.
Vielleicht helfen Ihnen einige Hypothesen zur Entstehung der Angst Ihrer Frau:
Wir Menschen (und auch Säugetiere) lernen in unseren Familien, wovor wir Angst haben müssen und wovor nicht. Fass' nicht auf die Herdplatte, guck' nach links und rechts, bevor du auf die Straße gehst, reibe dich mit Sonnencreme ein, und viele andere Themen müssen Eltern ihren Kindern vermitteln. Manche reagieren dabei zu extrem. Ich hatte Patientinnen mit z.B. einer Spinnenphobie oder Flugangst, die sich unter anderem in Therapie begeben haben, um ihren Kindern diese übertriebene Angst nicht weiter zu geben. Das finde ich sehr verantwortlich. Eine andere Patientin hat eine aus einem Trauma entstandene Angst vor dem Blutabnehmen, aber sie weiß darum und schickt ihren Freund mit den Kindern zum Arzt und sagt ihnen: Ich hatte eine schwere Geschichte mit Krankenhäusern, aber ihr habt damit nichts zu tun.
Wenn unsere Eltern angemessen mit Angst umgehen, erlernen wir das von ihnen. Wir lernen z.B., Unternehmungen zu planen (wollen wir nicht mal vorher anrufen, ob das Hotel noch Plätze frei hat, damit wir nicht abends ohne Übernachtung dastehen?), wir lernen schwimmen, wir lernen Arztbesuche. Das heißt: Wir bereiten unsere Kinder auf z.B. den Zahnarztbesuch vor, erklären, was sie zu erwarten haben und halten ihnen die Hand.
Doch das klappt nicht immer so optimal. Oft werden Kinder von ihren Familien schwer verängstigt.
Beispiele gibt es viele: Ein 8-jähriger Junge wurde von seinem Großvater in die Intensivstation mitgenommen, in der die heißgeliebte, aber jetzt verwirrte Großmutter über Monate lag. Der Großvater (miss)brauchte den Jungen, um sich selbst zu trösten. Er zeigte seine Verzweiflung und Trauer offen und überforderte den Jungen komplett.
In einem anderen Fall hat eine psychisch kranke Mutter bei jeder noch so kleinsten Anforderung oder Veränderung stark körperlich reagiert. Beim Urlaub weinte sie, bekam Durchfall und Migräne, konnte nicht mehr schlafen und die Familie vergaß es, das Kind zu beschützen und davon abzuschirmen. So hat das Kind die Verantwortung dafür übernommen, die psychisch kranke und hoch ängstliche Mutter nicht im Stich zu lassen und dafür zu sorgen, dass es ihr besser geht. Heute hat dieses mittlerweile erwachsene Kind viele Ängste, von denen sie selber weiß, dass sie übertrieben sind.
Neulich sah ich auf einem Spielplatz ein Elternpaar und eine Großmutter, die sich besorgt und schützend um eine Dreijährige scharten, die eine Rutsche herunterrutschte. Dieses Kind lernt unter dieser Heliktopter-Bewachung sicher auch, dass Rutschen ganz gefährlich ist und unter strenger Aufsicht erfolgen sollte. Meine Nichte hingegen kletterte in dem Alter wie ein Affe, und ihre Mutter stand belustigt daneben, wurde aber von anderen Müttern oft angesprochen, ob sie leichtsinnig sei. Meine Nichte ist mittlerweile 17 und kerngesund…
Ich möchte darauf hinaus, dass Ihre Frau wahrscheinlich in ihrer Kindheit durch die Krebserkrankung ihrer Mutter große und bis heute unbewältigte Ängste entwickelt hat, jemanden, den sie damals brauchte, zu verlieren. Vielleicht rührt daher die große Angst um ihre Mutter, die sie auch heute noch hat. Sinnvoll wäre, Schutzmaßnahmen mit der Mutter zu besprechen und dafür zu sorgen, dass sie sicher ist.
Es wäre bestimmt sinnvoll für Ihre Frau, diese Erfahrungen und die Beziehung zur Mutter therapeutisch aufzuarbeiten. Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Frau als Kind nicht genug beruhigt worden ist, weil die Familie sich um die erkrankte Mutter gedreht hat. Und jetzt fehlt ihr sozusagen die Erfahrung, sinnvoll mit dem Coronavirus umzugehen und Ruhe zu bewahren, weil sie sich selbst nicht beruhigen kann, sondern mit zwanghaftem Verhalten (Putzen, Kontrollieren, Horten, Informationssammlung) kompensiert. Es ist möglich, dass Ihre Frau über den Verlauf des Corona-Virus starke Zwänge entwickelt.
Ich empfehle Ihnen, Ihrer Frau deutlich zu raten, eine Verhaltenstherapie zu beginnen. Das wäre bestimmt auch ein guter Weg, um in Gesprächen mit Ihnen die anstrengenden Auswirkungen auf die Partnerschaft zu besprechen.
Und noch etwas: Kümmern Sie sich bitte um die Kinder! Wie Sie aus meinen Beispielen ersehen, ist es sehr wichtig, dass Kinder einen vernünftigen und unterstützenden Umgang mit Gefahren erlernen. Und dazu ist Ihre Frau nicht in der Lage. Deshalb sollten Sie sich das zur Aufgabe machen.
Herzliche Grüße,
Julia Peirano