Evangelische Kirche in Deutschland Aufarbeitung von Missbrauch: "Die evangelische Kirche hinkt der katholischen weit hinterher"

Ein kleiner Junge weint
Der Missbrauch eines Kindes hinterlässt Spuren bis ins Erwachsenenalter
© NickS / Getty Images
Die Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen auf Kinder und Jugendliche läuft schleppend in der evangelischen Kirche, sagen Kritiker. Eine übergreifende Studie wird frühestens Ende des Jahres erwartet. Was beklagen die Betroffenen?

Wenn es um sexuelle Gewalt oder Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der Kirche geht, stehen Vorwürfe gegen katholische Priester im Fokus. Zuletzt wurden gar Vorwürfe gegen einen der höchsten Würdenträger, den 1991 gestorbenen Kardinal Franz Hengsbach, öffentlich. "In meinen Augen hatte die evangelische Kirche lange das Bild: 'Bei uns gibt es Einzelfälle'", sagt die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus. Erst 2018 sei verstanden worden, dass es "innerkirchliche Strukturen sind, die den jahrelangen Missbrauch und dessen Vertuschung in größerem Ausmaß möglich gemacht haben".

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gab Ende 2020 eine unabhängige Studie zu sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen im Bereich der EKD und der Diakonie in Auftrag. Mit etwa 3,6 Millionen Euro unterstützen EKD und Landeskirchen das Forschungsprojekt. Ergebnisse dieser sogenannten Forum-Studie, an der unter anderem Wissenschaftler aus Hannover, Hamburg und München mitwirken, werden Ende 2023 oder Anfang 2024 erwartet.

Claus erhofft sich von der Studie Erkenntnisse über besondere Risikofaktoren und damit spezifische Täterstrategien und Tatkontexte in der evangelischen Kirche. "Wir wissen aus Erfahrungsberichten, dass Jugendliche verstärkt sexueller Gewalt ausgesetzt waren, die in einem besonderen Näheverhältnis zu Pfarrern, Seelsorgern oder Teamern während der Konfirmation und in der Jugendarbeit standen." Wer seine Position als Seelsorger ausnutze, handele besonders perfide und verwerflich.

Es begann auf Konfirmandenfahrten

Katharina Kracht wurde in den 1980er und 1990er Jahren von einem evangelischen Pastor im niedersächsischen Nenndorf bei Hamburg schwer sexuell missbraucht. Es fing mit Berührungsspielen auf Konfirmandenfahrten an, noch vor ihrem 18. Geburtstag kam es zu schwerem sexuellen Missbrauch. Die junge Frau benötigte zehn Jahre, um zu erkennen, dass die vermeintliche Liebesbeziehung sexualisierte Gewalt war. Unter den psychischen Folgen leidet sie noch heute.

Ihre Missbrauchserfahrungen machte Kracht zwar vor drei Jahren unter einem Pseudonym gemeinsam mit Kirchenvertretern öffentlich, doch vom Umgang der evangelischen Kirche mit Betroffenen ist sie enttäuscht. "Ich weiß nicht, ob das Unfähigkeit ist oder Unwille", sagt die 50-Jährige, die von der Landeskirche Hannovers 35.000 Euro als Zahlung in Anerkennung ihres Leids erhalten hat. Diese Summe sei ihr erst hoch erschienen, doch angesichts der gesundheitlichen Folgen sei sie – genauso wie bei vielen anderen Betroffenen – viel zu gering, sagt Kracht. Schließlich erhalte die Kirche jährlich Hunderte Millionen Euro an Staatsleistungen.

Kinderschutz gegen sexuellen Missbrauch in Deutschland
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Wie sich herausstellte, hatte der 2013 gestorbene evangelische Pfarrer in Nenndorf und auch in seiner vorigen Kirchengemeinde in Wolfsburg weitere Mädchen missbraucht. "Notwendig ist eine von der Kirche unabhängige Ombudsstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt", betont Kracht. Die gebe es bereits, sagt ein EKD-Sprecher und verweist auf die unabhängige Zentrale Anlaufstelle Help (www.anlaufstelle.help). Zusätzlich hätten einige Landeskirchen unabhängige Ansprechpersonen wie Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen benannt.

Evangelische Kirche hinkt bei der Aufarbeitung "der katholischen Kirche hinterher"

"Die evangelische Kirche hinkt weit hinter der Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche hinterher", kritisiert der Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster. Lange habe der Irrglaube geherrscht, dass die vermeintlichen Risikofaktoren in der katholischen Kirche wie Zölibat und eine überkommene Sexualmoral bei der evangelischen Kirche nicht vorlägen. Tatorte seien aber auch evangelische Pfarrhäuser mit verheirateten Pfarrern, Pfarrerinnen und deren Familien.

Bis Ende 2022 haben die Landeskirchen der EKD insgesamt 858 Anträge auf Anerkennungsleistungen gemeldet. Diese Zahl entspreche aber nicht der Anzahl aller Fälle sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie, sagt der EKD-Sprecher. "Fälle, in denen die betroffene Person keinen Antrag stellen möchten oder können, sind hier nicht eingeschlossen." Die Anträge berichten dem Sprecher zufolge von insgesamt 904 Tätern und 190 Täterinnen.

Betroffenen-Sprecher geht von "zig Tausenden Fällen" aus

Der Betroffene Detlev Zander geht von "zig Tausenden Fällen von sexualisierter Gewalt" im Bereich der EKD und Diakonie aus. Bei den Zahlen müssten auch die sogenannten Altfälle berücksichtigt werden, sagt er. Zander ist ein Betroffenen-Sprecher des 2022 eingesetzten sogenannten Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der EKD. In dem Gremium sitzen Betroffene und Kirchenvertreter.

Es werde den Betroffenen nicht gerecht, wenn eine Landeskirche oder Diakonie für ihre Verbrechen unterschiedliche Beträge auszahle, kritisiert Zander. In der katholischen Kirche ist dafür die sogenannte Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) zuständig, bei der EKD entscheiden bisher die einzelnen Landeskirchen unterschiedlich. Eine Arbeitsgruppe des Beteiligungsforums will der Synode der EKD im November Vorschläge zu einheitlichen Regelungen unterbreiten.

Jahrelang vergewaltigt

"Wirtschaftliche Interessen der EKD und Diakonie dürfen nicht im Vordergrund stehen", betont Zander, der in einem Kinderheim der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in Baden-Württemberg aufwuchs. Nicht die Betroffenen seien geldgierig, sondern die Täter seien gierig gewesen. "Ich weiß, von was ich rede, ich wurde als Kind jahrelang vergewaltigt."

In der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal hatten Kinder von den 1950er bis in die 1980er Jahre körperliche und sexualisierte Gewalt erlebt. Dutzende Täter sind bekannt, vor allem Betreuer und Angestellte. 140 Fälle sind dokumentiert – aber die Taten juristisch verjährt. 2022 wurden drei Mahnmale auf dem Heimgelände aufgestellt, die daran erinnern sollen, wie Kinder durch Gewaltexzesse von Erwachsenen für ihr Leben geschädigt wurden.

DPA
bal / Christina Sticht

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