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C. Tauzher: Die Pubertäterin Brieffreunde? Gummihüpfen? Warum die Teenager der 90er-Jahre ein Rad ab hatten

Mädchen lehnt mit Brief an Baum
In den 1990er waren Brieffreundschaften noch in Mode
© Jupiterimages / Getty Images
Die Teenagerin muss als Hausaufgabe ein Interview mit ihrer Großmutter über deren Jugend führen. Für Christiane Tauzher ein Anlass, von ihren Teenagerjahren zu zu erzählen. Kommentar der Tochter: "Was war das für ein Leben!"

Während der heißen Corona-Phase, als wir uns alle verängstigt verbarrikadierten was der Teenagerin sehr zupasskam, da die Vorsichtsmaßnahmen, die die Pandemie mit sich brachte, auf ihre Bedürfnisse als Mensch gewordener Wombat zugeschnitten waren – während dieser "Stay at home"-Phase also kam ein Arbeitsauftrag des Deutschlehrers herein, der den Alltag der Wombi durcheinanderbrachte. Der Professor verlangte ernsthaft ein Interview mit einem Großelternteil. Jugend und Schulzeit vor fünfzig/sechzig Jahren sollten beleuchtet werden. Zu allererst plusterte sich die Wombi darüber auf, dass es unzumutbar wäre, ein Interview zu führen, wenn sie ihrer Großmutter nicht leibhaftig gegenüber sitzen könne. Als erfahrene Journalistin wusste sie natürlich, dass das die Arbeit ungemein erschwere – ganz besonders dann, wenn es sich bei dem zu Interviewenden um die Großmutter handelt. Gerade hatte die Wombi mit einer Netflix-Serie begonnen, die keine Unterbrechung zuließ, ihre Haare mussten gewaschen und geföhnt werden, plötzlich verfolgte sie auch die Idee, ihr Gewand aussortieren zu wollen und ihrem Hündchen die Zähne zu putzen.

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"Ich sage es jetzt zum allerallerletzten Mal! Storys aus dem fast perfekten Alltag einer Mutter", von Christiane Tauzher, Goldegg Verlag, 14,95 Euro

"Mach zuerst das Interview", sagte ich, "ruf die Nonni an, vorher überlegst du dir Fragen und du wirst sehen – es wird nicht so schlimm sein, dass ihr euch nur hört." Die Wombi stöhnte. Ich kürzte meinen Vortrag über die Dramaturgie und den Aufbau eines Interviews abrupt ab, als sie mit den Augen zu rollen begann und ein Gähnen unterdrückte.

Drei Tage lang erinnerte ich sie, auf das Interview nicht zu vergessen – die Haare hatte sie in der Zwischenzeit zwei Mal gewaschen, die Netflix-Serie war fast abgeschaut. Erst als ich ihr seufzend das Smartphone abnahm, raffte sie sich auf und befragte meine Mutter zu ihrer Jugend. Das Gespräch war lang, meine Mutter ist keine, die sich kurz fasst.

Als die Wombi Antworten auf alle ihre Fragen bekommen hatte, setzte sie sich ermattet neben mich, schloss die Augen und seufzte: "Als die Nonni so alt war wie ich, hat sie das Einwickelpapier gesammelt, in dem Orangen früher verpackt waren. Sie hat das Papier gebügelt und dann in Mappen geklebt. Die, die sie doppelt hatte, hat sie mit ihren Freundinnen getauscht. Kannst du dir das vorstellen? Bitte wer macht sowas?"

Ich erinnerte mich auch noch an diese gemusterten knittrigen Papiere, in denen die Orangen verkauft wurden. Das war, bevor alles in Plastik gepackt wurde.

Des einen Orangenpapier, des anderen Zigarettenpapier

"Ich finde", sagte ich, "dass Orangenpapiersammeln ein netter Zeitvertreib ist. Aber Deine Generation fehlt es eben an der Zeit, weil ihr ständig am Smartphone hängt."

Seufzen der Wombi.

"Sag bloß, dass du auch Orangenpapier gesammelt hast?", fragte sie.

"Wir haben das Silberpapier in den Zigarettenschachteln gesammelt, geglättet und gewogen. Irgendjemand hat nämlich damals erzählt, dass ein armes Kind einen Rollstuhl bekommt, wenn 20 Kilo von diesem Papier zusammenkommen."

Die Geschichte fand die Wombi spannend. Jeder aus meinem Freundeskreis – Raucher und Nichtraucher – sammelte damals für das ominöse arme Kind ohne Rollstuhl diese Silberpapiere, die nichts wogen.

"Hat das Kind dann den Rollstuhl bekommen", wollte die Wombi wissen. "Ich glaube nicht", sagte ich. "Aber warum habt ihr dann gesammelt, und warum sollten 20 Kilo von diesem Papier überhaupt etwas wert sein?" Ich zuckte die Achseln. "Das Sammeln hat einfach Spaß gemacht. Wir haben sogar in Mistkübeln gewühlt, um das wertvolle Papier aus leeren Zigarettenschachteln zu zupfen." Die Wombi konnte nicht fassen, wie beknackt Teenager in den 90er-Jahren ganz augenscheinlich gewesen waren.  

Noch skurriler fand sie Brieffreundschaften, von denen ihr auch ihre Großmutter im Generationen-Interview berichtet hatte. "Ihr habt irgendwelchen fremden Leuten Briefe geschrieben. Total mühsam."

Christiane Tauzher: Die Pubertäterin

Seit die Pubertät unsere Tochter, die Wombi, kurz nach ihrem 13. Geburtstag in ihre Gewalt bekommen hat, halten wir die Fenster geschlossen, damit die Nachbarn nicht die Polizei rufen. Die Pubertäterin ist laut und unberechenbar, wenn sie nicht gerade wie ein Wombat schläft oder isst – was sie zum Glück oft tut.

Die Geschichten, die ich – Journalistin, 41, aus Wien, verheiratet mit Olaf, 46 – hier erzähle, handeln natürlich nicht von der Pubertäterin in meiner Familie. Nein. Sie entspringen meiner blühenden Fantasie oder stammen aus anderen Familien. Dort geht es nämlich arg zu – in den anderen Familien ...

"Das Schöne war das Warten auf eine Antwort, der besondere Moment, wenn man den Brief aus dem Postkasten holte, vorsichtig öffnete und las. Eine Nachricht aus einer fremden Welt", erzählte ich.

Die Wombi fand das "spooky". "Eure Freizeit bestand darin, Abfall zu  sammeln, ihn zu bügeln und auf Briefe von fremden Leuten zu warten. Was war das für ein Leben? Ihr seid echt arm gewesen."

"Wir sind auch leidenschaftlich gern Gummi gehüpft", erzählte ich der Wombi lächelnd, "wir haben Karten gespielt und Völkerball, und ich habe viel gestrickt."

"Okay", sagte die Wombi, "schön für euch. Kann ich jetzt bitte wieder mein Handy haben?"

Ich gab es ihr. Das Display war voll mit neuen Nachrichten - aber sicher keine einzige  aus einer fremden Welt.

Ich sah meiner Tochter hinterher, wie sie mit über das Smartphone gesenktem Kopf davonging. Und ich dachte mir, dass sie mit ihren langen Beinen sicher eine sehr erfolgreiche Gummihüpferin geworden wäre. Und dann dachte ich mir: Schade.

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