Die Wahrscheinlichkeit, Fünflinge zur Welt zu bringen, liegt bei 1:50 Millionen – oder anders ausgedrückt: 0,000002 Prozent. In den 1930er Jahren waren Mehrlingsgeburten noch seltener als heute, und vor allem stellten sie ein hohes gesundheitliches Risiko für Mutter und Babys da. Die Schwestern Yvonne, Annette, Cécile, Emilie und Marie Dionne, die am 28. Mai 1934 in der kanadischen Provinz Ontario geboren wurden, waren damit in jeder Hinsicht eine Sensation.
Es ist ein Kraftakt, den die schwangere Oliva Dionne da vollbringt, nicht etwa in einem Krankenhaus, sondern in einer einfachen Hütte ohne Wasser und Strom. Doch am Ende bringt sie mit Hilfe eines Landarztes und zweier Hebammen fünf Mädchen zur Welt. Die Babys sind zwei Monate zu früh gekommen. Aber nicht nur deswegen glaubt eigentlich niemand, dass sie überhaupt eine Überlebenschance haben. Denn noch nie haben – soweit bekannt – Fünflinge länger als 50 Minuten nach der Geburt überlebt.
Der Arzt gibt die fünf Mädchen schon auf, er ruft einen Priester, der ihnen die Letzte Ölung spendet – das Sakrament der Katholischen Kirche unmittelbar vor dem Tod. Aber Yvonne, Annette, Cécile, Emilie und Marie gelingt das Wunder. Als erste bekannte Fünflinge überhaupt überleben sie und erreichen sogar das Erwachsenenalter. Und dennoch ist ihr Leben von einer tiefen Tragik geprägt.
Die Fünflinge werden zum öffentlichen Spektakel
Es ist die Zeit der Großen Depression, das Ehepaar Dionne hat noch neun weitere Kinder und kaum Geld. Der Vater lässt sich deshalb auf einen Handel ein: Er stimmt zu, die Babys als Attraktion für einen stattlichen Betrag bei der Weltausstellung in Chicago zu präsentieren. Das ruft die Regierung auf den Plan: Die Eltern verlieren das Sorgerecht, die Fünflinge wachsen in einem Krankenhaus auf. Doch statt sich um das Wohl der Kinder zu kümmern, bereichern sich der Staat und Allan Roy Dafoe, der Arzt, der die Fünflinge auf die Welt geholt hatte, ihrerseits an ihnen.
Die Dionne-Fünflinge werden zu einer riesigen Attraktion: In einem eigens dafür gebauten Freizeitpark stehen die fünf Schwestern hinter einer Glasscheibe und werden von den Besucher:innen begafft. Sie können es nicht fassen, dass die fünf Kinder tatsächlich genau gleich aussehen. Die Mädchen müssen derweil nicht nur die Blicke ertragen, sondern auch Kunsttücke aufführen. Zwischen 1936 und 1943 sollen insgesamt drei Millionen Gäste sich das Spektakel angeschaut haben. Darüber hinaus werden die Kinder zu Werbefiguren, mehrere Filme werden über sie gedreht.
Zehn Grundbedürfnisse: Was Kinder brauchen, um glücklich zu sein

Kinder brauchen mindestens eine Bezugsperson, der sie sich anvertrauen können und bei der sie ehrliche Zuwendung und Liebe bekommen. Durch eine enge Bindung zu den Eltern oder Erziehungsberechtigten lernen Kinder, wie Beziehungen funktionieren und können dadurch auch im späteren Leben gesündere Bindungen zu anderen Menschen aufbauen.
"Unsere Kindheit glich einem langen Winter"
"Unsere Kindheit glich einem sehr langen Winter", sagten Cécile und Annette Dionne 2018 dem "Spiegel". "Unser Hunger nach Liebe wurde nicht gestillt." Auch als die Fünflinge 1943 – mit neun Jahren – wieder zu ihren Eltern zurückkehren dürfen, geht der Albtraum weiter. Zwischen Eltern und Kindern gibt es kein echtes Verhältnis, stattdessen kommt es zu Misshandlungen und sogar sexuellem Missbrauch, wie sie in einer Autobiografie schreiben. Sobald sie volljährig sind, wenden sie sich geschlossen von den Eltern ab und versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen – natürlich zusammen.

Auch als Erwachsene wurden die Dionne-Fünflinge nicht glücklich
Glücklich werden sie dennoch nicht, das Leben in Freiheit erscheint ihnen überfordernd. Nur wenig später, mit 20 Jahren, stirbt Emilie an einem epileptischen Anfall. Marie macht sich mit einem Blumenladen selbstständig und verstirbt 1970 im Alter von 36 Jahren an einem Blutgerinnsel im Gehirn. Yvonne geht zeitweise ins Kloster und stirbt 2001. Die beiden noch lebenden Schwestern Annett und Cécile meiden ihr Leben lang die Öffentlichkeit.
Immerhin zahlt ihnen die Regierung von Ontario 1998 vier Millionen kanadische Dollar als Entschädigung für die Behandlung während ihrer Kindheit – nachdem der Staat geschätzte 500 Millionen Dollar mit ihnen verdient hat. Wohl nur ein schwacher Trost für etwas, das Cécile und Annette Dionne "ein zum Scheitern verurteiltes soziales Experiment" nennen.
Quellen: "Washington Post" / "Spiegel" / Deutschlandfunk / BBC