Fußball im Schanzenpark Jamal kickt jetzt mit Flüchtlingskindern - und gibt sogar sein Lieblingsshirt ab

Von Georg E. Möller
Mir liegt meine Nachbarschaft am Herzen und zu der gehören seit ein paar Wochen auch die Flüchtlinge in den Messehallen. Ihre Unterkunft ist trostlos, deshalb unternehmen wir immer wieder was. Zum Beispiel gehen wir Fußball spielen.

"Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball", so oder so ähnlich soll es Albert Camus einmal gesagt haben. Das war vor fast 60 Jahren.
Said heult wie ein Schlosshund. Er hat keine Ahnung, wer Camus war oder ist, und es würde ihn auch nicht interessieren. Said darf die Fußballschuhe, diese weißen Buffer mit Streifenoptik, die er sich ausgesucht hat, nicht behalten, weil es gar keine Schuhe zum Verteilen waren, sondern Jamals Lieblingstreter, die er von seiner großen Schwester geschenkt bekommen hat.
Jamal ist ein Höllenhund. Das sind Jungs und Mädels aus dem Hamburger Schanzenviertel zwischen vier und acht Jahren, die seit einem Jahr in ihrem Bolzplatzkäfig im Schanzenpark so etwas Ähnliches spielen wie Fußball. Sie sind nicht im Verein angekommen oder haben sich da nicht zurechtgefunden. Aber sie lieben Fußball, so wie viele, viele Kinder auf der Welt. Es sind ein Trupp toller Jungs, wilde und stille, und eine halbe Hand voll Mädchen, von denen die eine oder andere zweifellos besser kicken kann, als die meisten derjenigen, die es anfangs doof fanden, gegen und noch viel schlimmer mit Mädchen in einem Team zu spielen. Inzwischen sind die Höllenhunde ein verwegener Haufen von kleinen Menschen, die sich selbst suchen und andere finden.

Lernfeld Fußball

Jeden Montag steht für anderthalb Stunden die Zeit still, irgendwo hinter der Umrandung, und spielt keine Rolle. Kinder wachsen, stellen Beine, fallen selber und schieben zu siebt den Ball über die Torlinie, flippen aus und schreien laut und manchmal wortlos ihre Freude in den Bolzplatzstaub. Jeder von den sieben hat gerade ein Tor geschossen. Das ist der Moment, wo Jungs auch Mädchen umarmen, ganz fest und ganz ernst und für immer. Tore sind Zeitdehner, sie können ewig dauern, für Sieger genauso wie für die Verlierer.
Said ist das egal, für ihn ist dieser Tag gelaufen, das große Weinen ist dem kleinen Glück gefolgt. Said ist einer von fünf Jungs, die ich vor einer halben Stunde in den Messehallen abgeholt habe, halb vier waren wir verabredet. Der Weg in den Park dauert für kurze Beine etwas mehr als 15 Minuten. Aber natürlich wollen bei allen Kindern Mütter, Väter und große Geschwister mitkommen, das ist in der überfüllten Einöde der Messehallen gar nicht so schnell zu versammeln. Immer wieder verschwindet Omar in der Halle, kommt mit zweieinhalb Menschen wieder raus, wieder rein, wieder zweieinhalb raus. Ich kann damit leben, vielleicht habe ich mediterrane Gene. Omar und ich haben gemeinsam, dass wir ähnlich unzureichend English sprechen, das muss helfen und es hilft.

Die Mittler sind die wahren Helden

Omar weiß nicht, ahnt es nicht einmal, das in ein paar Jahren im Rückblick er und die anderen Dolmetscher einmal jene Reißverschlüsse gewesen sein werden, die verschiedene Gesellschaften, unterschiedliche Gruppen von Menschen in die Lage versetzt haben, einander zu verstehen. Für mich sind die Omars die wirklichen Helden in diesen Tagen, die Brücken, die Mittler, die Haken, an denen sogar Geschichten vom leisen Sterben und hoffnungslosen Weitergehen aufhängt werden, ohne Rücksicht auf den knapp 16-jährigen Übermittler. 

Irgendwann geht es los, mit zwei der Jungs war ich schon an der Elbe, wir albern deutsch/arabisch. Yalla. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich Answar richtig ausspreche. Aber jedes Mal stoppen mich die Jungs und ich muss mir noch einen neuen Knoten ins Gaumensegel knoten. Jamal, Anor, Aobadah, Said und Achmed zeigen mit den Fingern auf Dinge und ich muss die deutschen Wörter dazu sagen, dann sagen sie es ziemlich klasse nach. Ich muss kein einziges Mal sagen: "Nochmal". Vielleicht bin ich auch sprachtoleranter. Es spielt am Ende gar keine Rolle, weil wir Spaß haben.

Flüchtlingskinder sind willkommen

Als ich die Eltern der Höllenhunde gefragt habe, ob sie es gut finden würden, wenn in Zukunft auch Flüchtlingskinder am Montag mitkicken, hat keiner gezuckt. Im Gegenteil, sie finden es gut, wenn ihre Kinder wissen, wo und mit wem sie leben und leben werden. Auch wenn es bedeuten würde, dass wir uns nach zwei oder vier Wochen dem wahnsinnigen Abschieberegime unterwerfen müssten oder der Tatsache ins Auge sehen, dass Familien und damit auch die Kinder verschoben oder verlegt werden. Eine gescheiterte Flüchtlingspolitik darf uns nicht mehr stoppen, Menschen ihre Würde zurückzugeben. Für Wochen, für Tage, für einen Nachmittag.
Als wir am "Käfig" ankommen, sind die Höllenhunde schon da, alle gucken, alle lächeln ein bisschen unsicher und tapsig. Isodoro, Argentinier und Papa von Mateo und Co-Coach, schmeißt ein paar Bälle ins Feld. Das macht schon mal für die Hälfte aller Beteiligten Sprache überflüssig. Die anderen setzen sich in zwei Gruppen auf die mitgebrachten Decken und gucken sich an. Ihnen fehlt Omar. Den brauche ich grad noch auf dem Platz, weil wir einen Kreis bilden und alle mal kurz sagen, wer sie sind. Die Eltern haben mit ihren Kindern geredet, das ist nicht immer leicht, da sind beim Erzählen immer auch Bilder, die keine Kinderbilder sind, auch wenn Kinder drauf abgebildet sind und wir werden unsere Kinder davor bewahren. Die kleinen palästinensischen, kurdischen und syrischen Augen haben allerdings oft Dinge gesehen, die sie nicht hätten sehen sollen.

"Wir sind die Höllenhunde"

Während wir uns einander bekannt machen, feststellen, dass es einen syrischen Jemel und einen deutschen Jamal gibt, taucht Lasse Sobiech, Abwehrhüne beim FC St. Pauli, auf, will die Aktion der Höllenhunde sehen. Er kriegt noch mit, wie sich zweiundzwanzig kleine Hände übereinanderstapeln. Die Sobiech-Pranke kommt halt obendrauf. "Wir sind die Höllenhunde" schreien die Höllenhunde und reißen die Hände hoch, die Anors, Saids, Aobadahs, Jamals und Achmeds rufen irgendwas. Hauptsache laut. Dann wird trainiert. Zwei Runden laufen, tschüs Lasse, Bundesligaprofis sind immer nur ganz kurz da, wo sie sind. Dann Dehnungsübungen, Mannschaften bilden, es ist wie sonst. Nur mit mehr. Der Trainer ruft "Stopp", David hört nicht, der Trainer ruft "Stopp" und Achmed reagiert nicht. Die Internationale des Trainerignorierens wurde gerade gegründet.
Omar ist inzwischen wichtigste Verbindungsfigur bei den Eltern, er näht die stolzen Väter, die man hier wie in jedem Land der Welt während des Trainings vom Platz schicken muss, weil sie von alleine nicht gehen, die Mamas und die großen Geschwister zusammen. Erklärt den Unterschied von Süßigkeiten mit und ohne schweinische Zutaten und warum Marshmallows voll aus Schweingebein sind und was eigentlich halal bedeutet. Er vermittelt den Wunsch der großen Girlz, ein Volleyballteam zu gründen und übersetzt für seinen Vater, der vor der Flucht als Lehrer und Fußballtrainer unterwegs war, dass der Höllenhundekäfig vormittags und frühnachmittags sehr gut auch Refugees-Teams beherbergen kann.

Fußball verbindet

Das Spiel war wie immer zu früh zu Ende. Die Kinder verschwinden auf den Spielplatz. Wir grillen und chillen, als hätten wir nie etwas anderes gemacht.
Said ist nicht mehr sauer wegen der Schuhe, er hat es vergessen, aber auch, das Zinédine-Zidane-Shirt zurückzugeben, das mit der fetten 10 und dem Hahn drauf. Auf dem Nachhauseweg wird Jamal trocken bemerken: "Der kann das ruhig haben, der soll auch mal mein Lieblingsshirt haben." Oder, wie Camus sagen würde: "Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball."
Wir haben heute wieder ein bisschen an dem geschraubt, von dem die "Ich bin kein Nazi, aber"-Verzweifler nicht mal einen Hauch haben: einfach gemachter Nachbarschaft. Wir sind mehr.

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