Es war ein schöner Sonntag, und er saß mit seiner Frau und seinen Kindern in der alten Klosterkirche, die über Saint Emilion aufragt, er wollte beten und singen, die Predigt hören, als plötzlich der Priester zu wettern anfing über "Winzer unter uns, die ihre Trauben, Gottes Gaben, auf den Boden fallen und verderben lassen". Eine Sünde sei das, ein Frevel. Stephan Graf von Neipperg wusste, diese geistliche Attacke galt ihm. Er war damals, 1988, der Einzige in der Gegend um das südwestfranzösische Städtchen, der die Trauben rigoros zurückschnitt - und auf die Erde fallen ließ.
Ein paar Tage nach der Sonntagspredigt ging er zum Pfarrer. Er erklärte ihm, dass sein angeblich gotteslästerliches Verhalten auch in der Natur vorkommt, dass Äpfelbäume etwa überzählige Äpfel abwerfen, dass jeder Tomatenzüchter, der geschmackvolle, aromareiche Früchte ernten möchte, überzählige Triebe kappt. Und er habe nun mal das Ziel, auf seinen Weingütern großen, richtig großen Wein zu machen.
Was er dem Pfarrer nicht erzählte - der hätte ihn für größenwahnsinnig gehalten - war, dass er einem Ideal nacheiferte: dem Pétrus von 1947, jenem mythischen Wein, den die Genießer weltweit als den absolut perfekten Rotwein verehren.
Stephan Graf Neipperg, der Winzer aus dem schwäbischen Schwaigern, hat im französischen Bordelais in zwei Jahrzehnten erreicht, wofür andere Generationen brauchen. Er macht unerhört guten Wein, viel mehr noch, er macht großen Wein, er macht, wie der amerikanische Weinkritiker Robert Parker lobt, "Prunkstücke".
Die Nächte sind schon kühl, tagsüber ist es aber noch angenehm warm, und es bläst ein kräftiger Wind vom Atlantik über Saint Emilion; das ist gut so, er trocknet die Trauben und verhindert Fäulnis. Für Stephan Neipperg sind diese Tage Anfang Oktober ein aufregendes Vabanque-Spiel, möglichst lange sollen die Trauben an den Rebstöcken hängen. Er will, dass der Wein sich holt, was er kriegen kann, vom Boden, vom Terroir.
Terroir, das ist seine Rede: Er will Wein, der von seiner Lage erzählt, von der Hitze und Kälte des Jahres, von den Menschen, die sich für ihn schinden.
Wann soll er mit der Lese beginnen? Stunden können darüber entscheiden, ob der 2006er ein großer Wein wird, ein Wein, der Freude macht, oder ob er nur ärgerliches Mittelmaß sein wird. Plötzlicher Regen könnte die Mühen des ganzen Jahres vermasseln und den Rebensaft verwässern. Er sagt, was er oft über sein Geschäft sagt: "No risk, no fun!"
Neipperg stapft durch seine Weinberge um sein Stammhaus Canon-la-Gaffelière, er zupft an den Reben, probiert die Beeren, zerreibt sie. Er testet Schalen, in ihnen steckt das Aroma, er kaut auf den Trauben, prüft die Kerne; trocken müssen sie sein. Was er sieht, freut ihn, die Haut ist perfekt, es ist wenig Saft in den Beeren, sie sind wunderbar klein - schön reif sind sie, schön süß.
Öchslewerte, ph-Werte - Neipperg ignoriert jene Dinge, die Weiningenieuren so wichtig sind. Nicht Technik, nicht kühle Analyse bestimmen bei ihm den Lesebeginn. Er verlässt sich auf seine Zunge, auf seinen seinen Geschmack. Und jetzt sagen die Geschmacksknospen seiner Zunge: Morgen musst du raus mit deinen Leuten, rein in die Weinberge! Er blickt hinüber zum Nachbarn, es ist ein sehr berühmtes Weingut, dort haben sie schon vor Tagen geerntet, viel zu früh, wohl aus Panik, denn über Saint Emilion hingen tagelang regenschwere Wolken: "Ein Konkurrent weniger", sagt er kühl.
Neippergs Weine sind Objekte der Spekulation. Wenn sie im Frühsommer in Bordeaux zur Verkostung auf den Markt kommen, drehen die Weinhändler durch. Sie - und das ist kaum übertrieben - prügeln sich um den gräflichen Saft. Und zahlen Wahnsinnspreise. Innerhalb einer knappen Stunde, so war es stets in den vergangenen Jahren, ist seine Jahresproduktion verkauft. Den letzten Jahrgang, seinen 2005er, hätte er problemlos drei-, viermal verkaufen können, die Weinfreaks aus den USA, Japan, Großbritannien und Deutschland waren bereit, fast jeden Preis zu zahlen. Für seinen Canon-la-Gaffelière - Dutzende von Euro. Pro Flasche. Für sein Spitzenprodukt, den "La Mondotte" - Hunderte von Euro.
Über 10 000 Winzer (vor 20 Jahren waren es noch 21 000) gibt es im Bordelais, doch den meisten geht es schlecht, sehr schlecht, fast die Hälfte werkelt am Rande des Existenzminimums, Konkurse und Selbstmorde häufen sich. Massenware. Überproduktion. Die Preise sind seit Jahren im Keller. Nicht wenige Winzer - manche hungern sogar, schreiben die Zeitungen - verscherbeln zum Überleben ihre 900Liter-Fässer für 800 Euro, also für 66 Cent pro Flasche.
Nur 300 Winzern geht es ziemlich gut, und 30 Winzern geht es so richtig gut - zu ihnen gehört Stephan Graf Neipperg. Jahr für Jahr gehören die Weine aus seinen Gütern zu den teuersten Bordeaux-Weinen, und das heißt: der Welt. "Schreckenerregend teuer", urteilt Parker, aber "jeden Cent wert!" Regelmäßig adelt der Amerikaner sie mit den höchsten Punktzahlen auf seiner Richterskala, er lobt "die brillante Leistung" Neippergs, er bejubelt beim "beeindruckenden 2001er Canon-la-Gaffelière" die "süßen Düfte von gerösteten Nüssen, Brombeeren, Crème de Cassis, Lakritz, Rauch und Graphit" und fragt sich verblüfft, ob Neipperg vielleicht "versucht, der Pétrus von Saint Emilion zu sein". Aber das sei letztendlich egal, denn er stellt Sensationelles fest: "einen 35 Sekunden anhaltenden Abgang".
Parkers Urteil gilt in der Weinwelt mehr als eine päpstliche Bulle bei frommen Katholiken. Mit seinen Benotungen kann der mächtige Kritiker aus den USA Winzerkarrieren zertrümmern und aus Nobodys Stars machen. Weltweit formiert der Amerikaner den Wein nach seinem Geschmack, schwere Weine liebt er, vanillige Bomben, breiig, aber gefällig. Dass er Neippergs Weine so schätzt, verblüfft. Denn der kümmert sich nicht um die Geschmacksknospen des Amerikaners. "Meine Weine", sagt er, "mache ich so, dass sie mir schmecken."
Wie er nun mit seinem sorgsam getrimmten Menjou-Bärtchen so in seinem Weinberg steht, blaue Designerjeans, dazu das passende Polohemd, die welligen, leicht ergrauten Haare nach hinten gekämmt und die Lacoste-Brille auf der Nase, wirkt er wie ein Stummfilm-Star aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, nicht wie ein Winzer. Nicht wie ein Landwirt.
Und es ist ja auch ein Zufall, dass er Herr über 240 Hektar Weinberge geworden ist. Eigentlich wollte er, der in Frankreich an diversen Eliteschulen und Elite-Unis studiert hat, Diplomat werden. Aber sein Vater Joseph-Hubert - noch so ein Zufall, aber auch eine Frage des Geldes - hatte 1971 die Weingüter Canon-la-Gaffelière (20 Hektar), La Mondotte (4,5 Hektar), Clos de l'Oratoire (10 Hektar ) und Château Peyreau (13 Hektar) gekauft. Und fragte irgendwann seinen Sohn Stephan, fünftes von acht Kindern, ob er Lust hätte, diese Güter zu übernehmen.
Lust auf diese Aufgabe bekam der erst, nachdem er ordentlich getrunken hatte. Er probierte alte Weine aus den diversen Gütern durch, und ein Wein von 1937 verführte ihn: Der war dicht, tief in der Farbe, fruchtbetont mit schönen Gewürzaromen, unheimlich ausgeglichen, harmonisch. Überhaupt die alten Weine: Bis 1964 waren die Weine aus den Gütern großartig - danach waren sie dünn, uninteressant. Fast eine Plörre. Aber in den Weinbergen und in den Böden, das war ihm nach seiner Trinkerei klar, steckte Potenzial. Das rauszuholen, das rauszukitzeln - das reizte ihn. Ruiniertes erneut zum Glänzen bringen. Und so ging er auf die Weinbaufachschule nach Montpellier, um sich aufs Winzerleben vorzubereiten. Vielleicht fühlte er sich auch seiner Familientradition verpflichtet: Seit 800 Jahren bauen die Neippergs in Württemberg Wein an.
Als er 1984 mit seiner Frau Sigweis nach Saint Emilion kam, war Stephan 26 Jahre alt, und er hatte von seinem Vater eines verlangt: Niemand redet mir rein. Ich mache hier, was ich für richtig halte. Er klang sehr selbstsicher, aber er hatte auch Bammel: Um ihn herum wurden die edelsten Weine der Welt produziert, waren die Stars wie Ausone, Belair, Cheval Blanc. "Ich kann nicht sagen, dass die Winzer hier auf mich gewartet haben."
So sorgsam er seine Weine produziert, so aufwendig restauriert er nach und nach auch seine Ch‰teaus. Canon-la-Gaffelière, in das er einzog, war damals ein Steinhaufen; heute ist das Gut vorbildlich restauriert. Er ist ein Perfektionist und ein Schwabe und ein Ästhet. Liegt auf seinem Hof ein Stück Papier, hebt er es auf, denn das signalisiere, meint er, "in dem Laden ist kein Zug, stimmt etwas nicht". Geht man zu ihm ins Büro, kommt man an Säulen vorbei, die im 18. Jahrhundert das Schloss des Staatsphilosophen Montesquieu schmückten.
In seinem Büro hängt Zigarrenrauch. Neipperg sitzt hinter einem alten, wuchtigen Schreibtisch, der Besucher auf einer alten, rötlichen Ledercouch. Man schaut auf einen Bücherschrank mit alten Weinbüchern. Alles im Raum signalisiert Erfolg. Stephan von Neipperg stellt etwas dar. Er selbst sieht sich so: "Ich bin Landwirt. Ich bin Winzer. Ich bin ein versponnener Weinliebhaber."
Als er anfing, war er einfach das: ein adliger Sonderling. Eine Frage trieb ihn um: "Warum ist der Wein nach 1964 so schlecht?" Seine Antwort: Der Sündenfall kam, als die Chemie mit ihrer Spritzerei über die Landwirtschaft hereinbrach. Man spritzt, sagt er, bei Mehltau, man spritzt, wenn es zu viel Grün gibt, man spritzt, wenn es zu wenig Grün gibt. Chemie, immer Chemie: "Das ist eine Weinlese des Todes."
Heute ist Neipperg ein Vorbild. Er hat den Weinbau im Bordelais revolutioniert. Millionen hat er in seine Weinberge und Güter gesteckt, seine Vision: Der Boden, das Klima, die Witterung - sie, nicht Technik und Chemie, sollen seine Weine formen und ihnen Geschmack geben. Und so hat er die Böden rekultiviert, ihnen den Kunstdünger abgewöhnt. "Ich mache meinen eigenen Mist", sagt er und zeigt seinen Dünger, der hinter seinem Château Peyreau lagert - ein riesiger Haufen Kuhdung.
Er hat die Rebgärten entwässert und sie zwischen den Rebzeilen begrünt, er hat die Entlaubung eingeführt und mit strengem Rebschnitt die Erträge begrenzt. Er hat Maschinen ins Land gebracht, die sanft rüttelnd und mit Luft pustend die Beeren von den Stängeln trennen. Er hat die einst so schicken Stahltanks durch Holzbottiche ersetzt. Er hat alte Gärmethoden aufleben lassen, er verzichtet auf die so praktischen Reinzuchthefen, die aber die Weine so gleichförmig machen; er setzt auf eigene, wilde Hefe, er ist gegen Schönungsmittel und Enzyme.
Langsam dürfen seine Weine gären, 20 bis 24 Monate liegen sie danach in 225-Liter-Holzfässern. Die wurden zuvor so geröstet, dass man den Weinen, die sie beherbergen, das Holz nicht anschmeckt; gleichwohl verleihen sie ihnen aber eine seidige Geschmeidigkeit. Diese Fässer sind ohne Astung, das macht sie besonders teuer, und sie werden nur einmal benutzt. Das ist Luxus, den sich Neipperg da leistet. Und der kostet. Hunderte von Fässern sind in seinen Kellern, knapp 1000 Euro kostet eins.
Wenn der Graf über seinen Weinbau redet, klingt er, der überaus kühl kalkulierende Unternehmer, wie ein grüner Träumer der 70er Jahre, fast esoterisch. Er spricht von Schwingungen, sagt höchst Merkwürdiges: "Ich mag nicht, dass man im Weinberg flucht. Verfluchter Wein wird nicht gut!" Er redet vom Einfluss des Mondes, von Gleichgewicht und Harmonie mit der Natur, von der Seele des Weins und seiner "Ehrfurcht vor den alten Winzern. Die waren nicht dumm, sie kannten die Natur. Dumm ist das heutige Ingenieursdenken". Bei Auktionen ersteigert er alte Weinbücher, er studiert alte Anbaumethoden, er will verschüttetes Wissen zurückgewinnen: "Wir müssen zurückschauen, um für die Zukunft zu lernen."
Der Wunsch nach Perfektion - das treibt ihn an, das macht ihn rastlos. Er sagt: "Dinge aufbauen - das ist für mich fast eine Krankheit." Er kann nicht anders, sagt auch seine Frau, er muss immer weitergehen, kann nicht ruhen - und so hat er nun in den nahen Côtes de Castillon das Château d'Aiguilhe gekauft, eine pittoresk zerfallene, äußerst renovierungsbedürftige Anlage aus dem 13. Jahrhundert. Und im fernen Bulgarien hat er sich ebenfalls eingekauft.
Ist der Mann verrückt?
Von wegen, meint Robert Peugeot. Der Erbe des Autokonzerns hat unlängst gemeinsam mit Neipperg ein 100-Hektar-Weingut in Sauternes erworben, das Château Guiraud. Für Peugeot ist Neipperg ein Zauberer, einer von einer Handvoll Künstlern, die verstehen, wie man wahren Wein schafft.
Wahrer Wein. Sollen doch die anderen, die Australier, die Amerikaner, die Chilenen - und bald wohl auch die Europäer - mit Enzymen und Aromen manipulieren, den Wein mit Holzspänen, mit Chips, mit Tannin versetzen oder mit Wasser verdünnen, ihn mit künstlichen Tricks aufpumpen oder verdichten.
Sollen sie doch mit dieser australischen Wundermaschine, der "Spinning Cone Column", Wein in seine Bestandteile zerlegen und wieder zusammenbauen, um ihn wie Autos designen zu können, um ihn auf einen globalisierten, süßlichen Einheitsgeschmack zu trimmen - ihm ist das egal. Er ist überzeugt: Irgendwann kommen die Leute auf den echten Geschmack, das Wahre: "Kluge Menschen", sagt er, "ernähren sich nicht von MacDonald's. Intelligente Menschen finden immer zum Echten zurück."
Schließlich trifft man den Vater, 89 Jahre ist er alt, füllig das Haar, buschig die Augenbrauen, rank und aufrecht steht er da, trägt am Werktag einen dreiteiligen grauen Anzug, ist vom Scheitel bis zur Sohle Etikette; er lebt aus der Geschichte seines Clans, der Diplomaten und Feldherren hervorgebracht hat, er ist stolz, dass einer seiner Vorfahren die Türken vor Wien schlug, dass ein anderer, Adam-Albert von Neipperg, mit Napoleons zweiter Frau durchbrannte und sie nach dessen Tod heiratete. Fragt man also den alten Herrn, ob er stolz ist auf seinen Sohn, der es mit seinem Wein zu Weltruhm gebracht hat, da lächelt er und sagt: "Es geht so."