Atomkatastrophe in Japan Die Heimatlosen von Fukushima

Von Mareike Rehberg
Sie haben ihre Lebensgrundlage verloren und wissen nicht, ob sie jemals in die Heimat zurückkehren können: Die Flüchtlinge von Fukushima fristen in den Notunterkünften ein verzweifeltes Dasein.

Rinderzüchter Eiji Konno ist verzweifelt. Seit Wochen schläft er auf dem Boden in einer Notunterkunft in Nihonmatsu und ist gezwungen, seine Herde zu Hause in Namie im Stich zu lassen. "Es fühlt sich an, als forderten meine Kühe mich auf, sie doch einfach gleich umzubringen", erzählt der 60-Jährige der japanischen Zeitung "Mainichi". Durch den Stress hat der Bauer bereits 18 Kilogramm an Gewicht verloren, sein hoher Blutdruck macht ihm zu schaffen. "Manchmal werde ich von der Angst überwältigt", gesteht Konno. Dennoch fährt der Farmer – eingepackt in Schutzkleidung – jeden Tag die 20 Kilometer bis zu seinem Bauernhof, um nach seinen Tieren zu sehen.

Wie Konno geht es derzeit vielen der rund 150.000 Menschen in den überfüllten Turnhallen und Schulen. Die Bewohner der Evakuierungszone hausen nach der Atomkatastrophe im Kernkraftwerk Fukushima in Notunterkünften und wollen doch nur eins: wieder nach Hause. Ob das jemals möglich sein wird, wissen sie nicht. Hinzu kommt die Angst vor der Zukunft. Wovon sollen die Menschen leben, wo sie doch alles verloren haben?

"Ich muss mir in Erinnerung rufen, dass meine Herde jeglichen Wert für mich verloren hat", sagt Noburu Watanabe, ein 53-jähriger Milchbauer aus Nahara zu "Mainichi", "sonst kann ich es nicht ertragen." Watanabes Frau Michiko fügt unter Tränen hinzu: "Mein Mann redet sich das ein, aber ich kann unsere Tiere einfach nicht aufgeben." Die Rinder muhen laut ihren Schmerz hinaus, weil ihre prallen Euter seit Wochen nicht gemolken wurden. Von der Evakuierung erfuhr der Bauer am Morgen des 12. März, als er ein letztes Mal dabei war, die Kühe zu melken.

Der japanische Zentralverband der landwirtschaftlichen Genossenschaften hat bereits einen Protestbrief an AKW-Betreiber Tepco geschrieben. Darin beklagen sich die Bauern bitter darüber, dass Tepco sie nicht über die Folgen der radioaktiven Strahlung aufgeklärt habe, außerdem fordern sie schnelle Entschädigungszahlungen. Die Landwirte sind gezwungen, ihre Höfe aufzugeben, eine neue Lebensgrundlage haben sie jedoch nicht.

Ein 102-Jähriger tötet sich aus Verzweiflung

Doch nicht nur die Bauern sind hilflos und überfordert mit der Situation. Ein 102 Jahre alter Mann aus Iitate hat sich offenbar das Leben genommen, weil er sein Dorf nicht verlassen wollte. Im provisorischen Evakuierungszentrum von Koriyama schlafen Tausende Heimatlose auf Decken auf dem harten Boden, viele sind erkältet, weil es in der Notunterkunft staubig ist. Es gibt weder Kochstellen noch Wasserboiler, sodass die Menschen den ganzen Tag nur Reisbällchen und Brot essen können.

Dennoch weigern sich viele, in bequemere Hotels oder Pensionen umzuziehen. Noch geben die Flüchtlinge die Hoffnung nicht auf, in ihre verlassenen Häuser zurückkehren zu können. Und ein weiterer Grund hält die Evakuierten in den überfüllten Massenunterkünften: Sie fürchten, in Hotels von Hilfsprogrammen der Regierung ausgeschlossen zu werden.

Sadaaki Sato gibt sich gegenüber "Mainichi" entschlossen: "Es ist egal, wo wir hingehen, eine Notunterkunft bleibt eine Notunterkunft. Ich werde mich nicht von hier wegbewegen, bis ich wieder nach Hause kann." Der 68-jährige Fischer aus Tomioka hat durch den Tsunami alles verloren. Auch für seinen Sohn Akio kommt eine Umsiedlung nicht in Frage. Er hat durch die Katastrophe sein Boot verloren, sein Haus aber blieb unversehrt. So schnell wie möglich möchte der 43-Jährige zurück in die Heimat und von vorne beginnen.

Regierung plant Öko-Stadt im Landesinneren

Die japanische Regierung hat mit den Menschen jedoch anderes vor. Sie plant den Bau einer Öko-Stadt nach dem Vorbild deutscher Gartenstädte, die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet wurden, um die Lebensbedingungen der Bewohner zu verbessern. Ministerpräsident Naoto Kan denkt an eine umweltfreundliche Stadt im Inland der Präfektur Fukushima, in der rund 100.000 Menschen leben können.

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Ob diese Öko-Stadt tatsächlich nötig werden könnte, darüber scheint sich Japan selbst nicht so ganz im Klaren zu sein. Am Mittwoch sorgte Kan für Verwirrung: Zunächst hieß es, die Evakuierungszone rund um die Atomruine bleibe für die nächsten 10 bis 20 Jahre unbewohnbar, dann wieder dementierte der Ministerpräsident seine angebliche Aussage. Für die Betroffenen und auch für die lokalen Verantwortlichen ist diese Kommunikationspolitik wenig hilfreich.

Für Michio Furukawa, Bürgermeister der 15.000-Einwohner-Gemeinde Kawamata, kam der Regierungsplan, einen Teil seiner Stadt zu evakuieren, urplötzlich. Die Stadtverwaltung erfuhr im Fernsehen davon, ihre Bürger konnte sie nicht vorher informieren. Innerhalb eines Monats müssen die Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen, doch sie sträuben sich und stellen wütende Fragen. Auf die hat der Bürgermeister meistens keine Antwort, fordert er doch selbst genauere Informationen von der Regierung.

Bauern, Fischer, Heimatlose und Gemeindevorsteher – sie alle warten darauf, dass die Regierung und AKW-Betreiber Tepco endlich einen Plan vorlegen, der ihnen sagt, wie sie in Zukunft weiterleben sollen.

Mit Agenturen