Mr. Raoul K ist ein international gefragter DJ und Musiker. Er gilt als Erfinder des "Afro House", mixt afrikanische Klänge mit House-Musik. Als 16-Jähriger war er vor dem Bürgerkrieg in Westafrika nach Deutschland geflohen. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er blieb trotzdem, heiratete, lernte Tischler, spielte Fußball, so gut, dass er Profi werden sollte. Eine Verletzung kam dazwischen. Auf der Love-Parade in Berlin, da war Raoul schon Jahre hier und hatte den deutschen Pass, fühlte er sich das erste Mal akzeptiert. Weil seine Hautfarbe endlich mal keine Rolle spielte. Für ein paar Stunden.
Zu dieser Welt wollte er gehören. Deshalb fing er mit der Musik an. Als er als Musiker erfolgreich war, ging er zurück nach Afrika. Weil er es in Deutschland nicht mehr aushielt. "Ich habe das Gefühl, dass ich in Deutschland eingehe", sagte er 2020 zum stern. Die Menschen seien unfreundlich und kalt in diesem Land.
Über 200.000 Menschen bekamen 2023 den deutschen Pass. Das ist ein neuer Rekord. So viele Einwanderer wurden seit dem Jahr 2000 noch nie eingebürgert. Die meisten Neudeutschen sind Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Die anderen Neubürger kommen aus der Türkei, dem Irak, Rumänien und Afghanistan. Viele junge Männer, im Schnitt 24,5 Jahre alt, die seit sieben Jahren in Deutschland leben. Sie freuen sich über ihren deutschen Pass, während auf Sylt junge Leute "Ausländer raus, Deutschland den Deutschen" grölen. Und nicht nur dort.
11,5 Millionen Migranten arbeiten derzeit in Deutschland
Die Parole ist nicht nur menschenverachtend. Sie ist dumm und falsch. 2022 lebten 20,2 Millionen "Menschen mit Einwanderungsgeschichte" in Deutschland, wie das Statistische Bundesamt schreibt. Ohne Ausländer, ohne Migranten, die den deutschen Pass haben, würde dieses Land zusammenbrechen. Ohne den Zuzug von Ausländern wäre Deutschland nie so reich geworden. Einwanderung hat eine lange Geschichte, sie ist unterm Strich – bei allen Problemen – eine Erfolgsgeschichte.
Schon nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) warben die Landesherren um Menschen aus ganz Europa, die ins frühneuzeitliche Deutschland kommen sollten. Sie brauchten Arbeitskräfte. Viele ihrer Untertanen waren tot. Die meisten "Réfugiés" kamen aus Frankreich. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts flohen die Menschen quer durch Europa von A nach B. Dann trieb es sie in die USA. Die Spätfolgen sind bekannt: Die Einwanderungsnation gehört heute zu den reichsten Ländern der Erde. Die Industrialisierung stoppte den Trend, in die USA auszuwandern. Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 zog es viele Menschen nach Deutschland. Auch Juden, die vor Pogromen Schutz suchten, kamen. Sie halfen, die Todesopfer des Ersten Weltkrieges zahlenmäßig auszugleichen. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, flohen die Menschen wieder aus Deutschland. Die Nazis mordeten und vertrieben klügste Köpfe – wie den Physiker Albert Einstein, der in die USA emigrierte, um nur einen Namen einer langen Liste von Intellektuellen zu nennen.
Wirtschaftswunder brauchte Gastarbeiter
In den 1950er-Jahren wurden im Wirtschaftswunderland händeringend Arbeitskräfte gesucht. Die Ölkrise hatte die Wirtschaft in eine tiefe Rezession gestürzt. Menschen kamen aus Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien, Italien und dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, verschärfte sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Deutschland musste noch mehr Gastarbeiter anwerben, um die Arbeitskräfte aus dem Osten zu ersetzen. Gastarbeiter lebten teilweise in Holzbaracken, schufteten hart, sparten und mehrten das Bruttosozialprodukt. Bis zum "Anwerbestopp" 1973 kamen rund 14 Millionen Menschen nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Elf Millionen kehrten in ihre Heimat zurück, wie die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt. In den 1980er und 1990er Jahren kamen die Aussiedler mit ihren Familien. 2015 rollte die Flüchtlingswelle. Dann flohen die Menschen vor dem Krieg in der Ukraine. Man kann es nicht oft genug sagen: Migration läuft nicht immer glatt. Klar gibt es Probleme. Trotzdem braucht das Land "Ausländer".

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11,5 Millionen Migranten arbeiten derzeit in Deutschland. Etwa die Hälfte hat keinen deutschen Pass. Eine halbe Million Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, werden gerade ausgebildet. "Ohne ausländische Staatsangehörige würden in vielen Engpassberufen weitaus mehr Beschäftigte fehlen", schreibt die Bundesagentur für Arbeit. 2023 gab es in Deutschland 570.000 offene Stellen. Viele davon werden von Migranten besetzt. 24.000 Ausländer versorgen in Deutschland alte und pflegebedürftige Menschen. Füttern und windeln sie, wenn nötig, beziehen ihre Betten, bringen sie zur Toilette, zum Arzt, achten darauf, dass sie ihre Medikamente nehmen.
Migration: 64.000 Ärzte aus dem Ausland
Deutschlands Krankenhäuser könnten ohne ausländische Ärzte wohl so manche Schicht nicht besetzen. 64.000 Ärzte und Ärztinnen, die aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, kümmern sich hier um Kranke. Allein aus Syrien stammen fast 6000 Mediziner und Medizinerinnen. "Ohne die Ärzte aus dem Ausland können wir unser Gesundheitswesen nicht auf dem derzeitigen Standard aufrechterhalten", stellt Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, klar. Wenn man sich die Familiengeschichte von Medizinern ansieht, sind 130.000 der über 400.000 berufstätigen Ärzte und Ärztinnen "entweder selbst eingewandert oder direkte Nachfahren von Einwanderern", wie das "Ärzteblatt" schreibt. Einwanderung sei unverzichtbar, schlussfolgert das Blatt.
Die meisten "Ausländer" arbeiten allerdings in Industriebetrieben. 761.000 veredeln, reparieren und montieren in Deutschlands Fabriken, was das Zeug hält. Das Handwerk sucht händeringend Leute, gerne aus dem Ausland. "Ohne Menschen mit Migrationshintergrund und Fachkräfte aus dem Ausland ist das Handwerk aufgeschmissen", sagte Hans Peter Wollseifer kürzlich dem "Kölner Stadtanzeiger". Der Malermeister ist Präsident der Handwerkskammer zu Köln und war bis 2022 Präsident des Zentralverbandes des deutschen Handwerks.
Ohne "Ausländer" müssten viele Restaurants und Cafés schließen. Über 400.000 Menschen aus der EU, der Schweiz, aus den Asylherkunftsländern, Drittstaaten und dem Westbalkan kochen und kellnern in Deutschland. Ohne "Ausländer", die in Lastwagen oder Taxis sitzen, stünden in Deutschland viele Räder still. 70 Prozent der freigewordenen Stellen in dieser Branche sind mit "Ausländern" oder Migranten (die schon den deutschen Pass haben) besetzt worden.
Jeder fünfte Migrant ist Unternehmer
In den vergangenen drei Jahren hat etwa jeder fünfte Migrant ein Unternehmen gegründet. Die Gründungsquote, oder der Mut, sich selbstständig zu machen, beträgt bei Migranten fast 20 Prozent. Bei den Deutschen liegt diese Quote bei 8,3 Prozent.
Migranten seien eine Belastung für Deutschland, behauptete kürzlich eine Studie. Falsch, rechnete Deutschlands bekanntester Ökonom Marcel Fratzscher dagegen. "Eine ehrliche Analyse dagegen zeigt, dass Migrantinnen und Migranten zwar kurzfristig eine erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Belastung für Deutschland bedeuten, jedoch langfristig einen essenziellen Nutzen auch für die Wirtschaft schaffen, ohne den viele Unternehmen nicht überleben könnten und viele Bürgerinnen und Bürger empfindliche Einschnitte ihres Wohlstands erleben müssten."

Bis 2035 könnten in Deutschland geschätzt bis zu sieben Millionen Fach- und Arbeitskräfte fehlen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will deshalb Fachkräfte anwerben – auch aus dem Ausland. Aber viele Menschen, die jetzt schon hier arbeiten, klagen über Diskriminierung. 52 Prozent der Arbeitskräfte, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums befragt hat, gaben an, in Deutschland wegen ihrer Herkunft diskriminiert worden zu sein. Menschen, die hier studieren, wollen zu einem großen Teil wieder weg. 24 Prozent der Studierenden, die aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, schätzen, dass sie im Ausland bessere Chancen haben. Sie halten es hier nicht aus, wie der Musiker Raoul K. Die Künstler in Deutschland mit Migrationsgeschichte sind ungezählt. Es ist auch nicht klar, wer "Ausländer" ist. Ausländer haben keinen deutschen Pass, aber natürlich sind sie auch Migranten. Und gebraucht werden alle.
Gerade hat Mr Raoul K eine neue CD rausgebracht. "Sinkere EP" – in der Ankündigung der Plattenfirma schreibt er: "Da ich weiß, wie gut und einfach es ist, in meiner Heimat Côte d’Ivoire zu leben, habe ich in Deutschland einen Schlussstrich gezogen und mich auf den Weg gemacht."