Der Raum ist ganz in Weiß gehalten. Auf einem Metallgestell am Fenster steht ein winziges Bett mit einer rosa-weiß gepunkteten Wärmedecke, umrahmt von mit Sternen und Herzen bemalten Plexiglas- Wänden, darunter ein schwenkbares Holzbrett. Hinter Klarsichtfolie steckt eine Benutzungsanleitung für die Babyklappe. "Brief an die Mutter" steht drauf. Er teilt der Mutter mit, was geschieht, wenn sie ihr Kind hier ablegt: "Keine Fragen, keine Kosten, keine Polizei".
Dieses Versprechen geben die Verantwortlichen der Babyklappe im schleswig-holsteinischen Satrup allen Müttern, die ihre Neugeborenen hier abgeben. Die Babyklappe gehört zum Projekt Findelbaby des Vereins Sterni Park. Der Verein betreibt auch zwei Babyklappen in Hamburg, eine Notruf-Hotline für Schwangere in Not sowie leistet Frauen Beistand und Hilfe bei anonymen Geburten. Insgesamt wurden seit 1999 über 300 Frauen betreut.
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...erfahren Sie im neuen stern. Und am 30. Juli um 00.00 Uhr wiederholt das ZDF Manfred Karremanns 3sat-Dokumentation "Wir sind doch Kinder. Misshandelt, ausgesetzt, getötet – weil sie störten".
Rettung in höchster Not
In Deutschland gibt es etwa 90 Babyklappen. Wie viele Babys hierzulande ausgesetzt werden, ist nicht erfasst. Seit acht Jahren, seit es das Projekt Findelbaby gibt, ist in Hamburg kein einziges Kind mehr ausgesetzt worden, sagt die Projektleiterin des Projekts, Leila Moysich. Aber seit der Gründung des Vereins seien in den drei Babyklappen in Hamburg und Satrup 32 Säuglinge abgegeben worden. Zehn von ihnen leben heute noch dort, drei davon sind schwerstbehindert.
Romy Wunderlich hatte im Oktober 2007 ihre Schwangerschaft verheimlicht. Die Berlinerin versuchte, ihr Baby allein zu Hause zur Welt zu bringen - nach fünf Stunden wählte sie die Notrufnummer. "Die sagten mir, dass ich sofort ins Krankenhaus muss", sagt die Frau mit den großen grünen Augen. Ihr kullern immer wieder Tränen über die Backen. Ein Krankenwagen holte sie ab, es war Rettung in höchster Not: "Hätte ich alleine zu Hause entbunden, wäre ich verblutet", sagt sie. Romy Wunderlich lebt heute in Satrup im Mutter-Kind-Haus. Denn nach der Geburt wusste Romy Wunderlich nicht, ob sie ihr Kind behalten soll. Der Kindsvater hatte erklärt, ein Kind komme für ihn nicht infrage.
Mütter lernen Erziehung
Romy Wunderlich ist nicht die einzige Frau, die hier auf dem platten schleswig-holsteinischen Land lernen muss, ihr Kind anzunehmen. Auf dem Rasen vor dem roten Backsteinhaus sitzen drei Mütter mit ihren Kindern in der Sonne. 20 Kilometer südwestlich von Flensburg üben sie, was für andere kein Problem ist: ein Kind zu haben, zu versorgen, es zu lieben. Im Mutter-Kind-Haus leben 27 Mütter mit 36 Kindern. Es sind Mütter, die unter traumatischen Kindheitserlebnissen, Psychosen oder Borderline-Störungen, also einer Art gespaltener Persönlichkeit, leiden.
Die Notrufnummer für Schwangere in Not...
... erreichen Sie kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/456 0 789. Die Internetseite der Einrichtung finden Sie unter www.sternipark.de.
Frauen wie Romy können ihr Kind auch bei rund 100 Pflegefamilien in der Region unterbringen. Diese Familien kümmern sich maximal acht Wochen ehrenamtlich um das Baby. Dann muss sich die Mutter entscheiden, ob das anonym geborene Kind nach Hause kommt oder eine fremde Heimat findet.
Anonyme Geburten sind in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass eine Mutter Angaben zur Person verweigern darf. Auch bei anonymen Geburten stehen Leila Moysich und ihr Team den Frauen zur Seite und übernehmen die Kosten. "Eine Frau, die ihr Kind ausgetragen hat, verdient größten Respekt", heißt es auf der Homepage von Findelbaby.
Hilfe im Alltag
Leila Moysich schlendert durch den Garten vor den Räumen der Kinderbetreuung, die 24 Stunden geöffnet hat. Die Kinder in den bunten Anoraks, die hier schaukeln und rutschen, ergeben eine internationale Gruppe. Ihre Mütter kommen von den Philippinen, aus Ghana oder der Dominikanischen Republik. Sie kreischen und glucksen um die Wette. "Heeeeeeey", ruft Leila Moysich und breitet die Arme aus.
Sie investiert viel Kraft und Energie in das Projekt. 150 Geburten hat sie bislang miterlebt, und "manchmal kannte ich die Frauen erst seit eineinhalb Stunden". 25 Betreuerinnen, darunter Köchinnen, Krankenschwestern, Pädagoginnen oder Ergotherapeutinnen, leisten für die Frauen Lebenshilfe: Sie erledigen Ämtergänge, gehen mit zum Arzt, zeigen den Müttern den Umgang mit Geld. Kleidung und Ausstattung wird, auch im Rahmen der Jugendhilfe, gestellt. Finanziert wird das Projekt durch Geld- und Sachspenden und dem Engagement Ehrenamtlicher.
"Vielen Müttern muss man klarmachen, dass sie zuerst Nahrung und Windeln und erst danach Kippen kaufen", erläutert Leila Moysich. Es gilt, dem Tag eine feste Struktur zu geben, die sich am Kind orientiert: "Viele der Frauen leben in den Tag hinein und würden ihrem Kind nachmittags um fünf noch nichts zu essen geben." In Satrup wird um zwölf, und abends beim "Kinderabendbrot", gemeinsam gegessen. Selbst Ausflüge machen die Frauen nicht selbständig.
Sechs Monate nach der Geburt ihrer Tochter Sophie wirkt Romy Wunderlichs Welt in Ordnung. Ihr Freund und ihre Familie akzeptierten das Mädchen, in zwei Wochen will sie wieder nach Hause. Ihre Schwiegereltern haben Romy versprochen, sich ab und an um die Kleine zu kümmern: "Ich kann sogar öfter ins Kino gehen, wenn ich will."