Diese Reportage gibt es auch zum Hören:
Der Radiologe, Internist und Hausarzt Helmut Bergdolt sagt, er habe in seinem Leben, das nun schon mehr als 95 Jahre dauere, keinen Tag gearbeitet. Menschen zu helfen gebe ihm Sinn. Er kenne kein beglückenderes Gefühl, als zu spüren, dass man für andere etwas sein könne. "Schönen Gruß von Doktor Bonhoeffer", sagt er, dem Theologen, den er für dessen Weisheit schätze und für den Widerstand gegen Hitler, auch wenn Bonhoeffer dafür sterben musste. Bergdolt lächelt sein Lächeln, das jung ist und zugleich uralt. Er liebe, was er tue, seit bald 75 Jahren. Und das sei auch schon das ganze Geheimnis.
Ist natürlich nur die halbe Wahrheit, aber jetzt klingelt es erst mal, und Helmut Bergdolt federt aus dem Sessel und gleitet auf Arztschlappen zur Praxistür. Herein kommt eine elegante Dame, er lächelt und breitet die Arme aus, "hallo, Frau Müller*, grüß Sie, ja, wunderbar, hier entlang, bitte, ja."
"Bis man hier oben ist", sagt sie, ein wenig außer Atem. "Sind Sie gelaufen, ja?", fragt er. "Man muss etwas tun!", ruft sie. "Mit dem Alter werden die Treppen höher!", sagt er und strahlt. Den Spruch mag er.
Er bittet sie auf einen Stuhl und setzt sich vor sie auf die Schreibtischkante wie ein Fernseharzt. Er legt ihr eine Manschette um und pumpt Luft hinein. "145 zu 80", sagt er zufrieden. Wie es bauchmäßig gehe?
Sie kennen sich seit 50 Jahren. Zu Doktor Bergdolt habe sie Urvertrauen, einfach, weil sie bei ihm nur gute Erfahrungen gemacht habe. Und das Leben habe er ihr auch mal gerettet. Kein Arzt habe es damals erkannt, er schon. Darum sitze sie jetzt hier, mit nur einer Niere, aber immerhin. Bergdolt sagt, sie habe über Schmerzen geklagt. Er wusste, wenn Frau Müller sich beklagt: höchste Eisenbahn. Sofort ins Krankenhaus.

Sie bereden noch ein paar Dinge, die Familie, den nächsten Termin, dann steht er auf und sagt: "Okay, gut, wunderbar, bis zum nächsten Mal, Wiedersehen." Bergdolt ist Profi im Gesprächeführen – und im Beenden. Er hat viel üben können, früher behandelte er 100 Patienten am Tag.
Viele Patienten kennt er schon jahrzehntelang
Es ist Freitagnachmittag, die Praxis leer, die Angestellten haben eine Schulung. Bergdolt ist wohl der älteste Hausarzt Deutschlands. Dreimal die Woche Sprechstunde, dazwischen macht er Hausbesuche, ist Vorsitzender zweier Vereine. Viele haben schon mit 25 keine Lust mehr zu arbeiten. Dieser 95-Jährige will nicht aufhören.