Ich habe mir Schriftsteller nie als glückliche Menschen vorgestellt. Gewiss, schreiben kann glücklich machen. Aber wer will ernsthaft Geschichten lesen, die von ständig gut gelaunten Menschen verfasst wurden? Es hat schon einen Grund, weshalb der erste Satz von "Anna Karenina" – eines meiner Lieblingsbücher, eben weil eigentlich jede Seite so herrlich Unglück atmet – lautet: "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise." Unglück ist schlicht spannender als Glück. Ferdinand von Schirach, mit rund zehn Millionen verkauften Büchern ein Glückskind der deutschen Literatur, hat nie den Anschein zu erwecken versucht, er habe eine Begabung zum Glück. Offen schrieb er über seine Kindheit als Nachfahre des bestialischen Nazi-Verbrechers Baldur von Schirach, über einen Suizidversuch in der Jugend, über Depressionen, die ihn sein Leben lang begleiten. Auf etwas Schwermut waren mein Kollege Hannes Roß und ich also eingestellt, als wir von Schirach in seinem Stammlokal in Berlin trafen. Wie anschaulich er dann aber über "diese Traurigkeit" sprach, die nie ganz verschwinde, das hat uns stellenweise den Atem geraubt.
Schirach schützt sich übrigens mit allerlei Tricks vor zu viel Öffentlichkeit. Er besitzt ein Handy, mit dem er anrufen, aber nicht angerufen werden kann. Er lässt sich bei öffentlichen Auftritten zusichern, davor und danach mit niemandem sprechen zu müssen. Aber er wagt zugleich immer wieder einen radikalen Weg ins Rampenlicht. Gerade legt er ein Buch vor, in dem es um die Liebe geht, obwohl er sich jede Frage nach eigenen Liebesbeziehungen als zu privat verbittet. Und er will das Ein-Mann-Stück sogar selbst auf der Bühne spielen, also alle Blicke auf sich ziehen, um sich diesen dann wieder zu entziehen. Der schönste Auftritt sei einer in Koblenz gewesen, sagt er, wo die Bühne einen Seitenausgang direkt zur Straße habe. Als er noch den Beifall hörte, sei er schon davongefahren.
Die Gedächtnislücken von Scholz
Bundeskanzler Olaf Scholz hat zurzeit nicht immer Glück, aber in einer Sache schon: Der Cum-Ex-Skandal, bei dem es um milliardenschwere Steuertricks geht und Scholz’ womöglich (zu) offenes Ohr für darin verstrickte Hamburger Skandalbanker, ist kompliziert. Wie genau die Tricks funktionierten, wann die Grenze zur Strafbarkeit überschritten wurde und welche Treffen zweifelhaft waren, durchschauen selbst Experten nur mit Mühe. Zum Glück ist unser Rechercheur Oliver Schröm der vielleicht kundigste Kenner der Materie. So kann er nun aufdecken, wie umfassend und streckenweise panisch das Scholz’sche Frühwarnsystem in Sachen Cum-Ex ansprang, auch wenn es doch angeblich gar nichts zu verbergen gab. Schröm legt dar, wie Scholz’ Erklärung, sich an bestimmte Treffen mit Vertretern der Warburg-Bank erinnern zu können, an andere aber nicht, noch etwas unglaubwürdiger geworden ist. Irgendwann könnte das Cum-Ex-Glück Olaf Scholz verlassen. Denn laut Umfragen hat sich in der Bevölkerung ein Eindruck festgesetzt: Die Gedächtnislücken des sonst so wohlorganisierten Kanzlers sind dubios.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dankte gerade europäischen Staatschefs öffentlich für die versprochene Lieferung von F16-Kampfjets. Nicht verbürgt ist seine Lektüre einer streng vertraulichen und doch öffentlich gewordenen Einschätzung der US-Geheimdienste. Die glauben nicht mehr an einen Erfolg der ukrainischen Sommeroffensive. Zu halbherzig sei der Vorstoß, zu entschlossen die russische Verteidigung. So könnten die Ukrainer ihr Ziel, Russland vor dem Winter vom Zugang zur Krim abzuschneiden, nicht erreichen. Vertrauliche Geheimdiensteinschätzungen werden in Washington stets kalkuliert durchgestochen. Diesmal könnte die Botschaft lauten: Finger weg von diesem Krieg, der nicht zu gewinnen ist. Verfängt sie, wäre Wladimir Putin seinem wichtigsten Ziel ein Stück näher: die Kriegsentschlossenheit des Westens zu brechen.