stern-Chefredakteur Science-Fiction-Filme könnten bald ganz schön alt aussehen: Gregor Peter Schmitz über den aktuellen stern

Editorial Gregor Peter Schmitz: Das Cover des aktuellen stern
Das Cover des aktuellen stern
© stern
Was macht künstliche Intelligenz mit uns Menschen – und mit unserer Arbeit? Dieser Frage ist das Titelgeschichten-Team des stern intensiv nachgegangen. Außerdem: eine Rekonstruktion der unbegreiflichen Tat in Hamburg. Gregor Peter Schmitz über den aktuellen stern.

Wenn mir die Gegenwart zu schwer wird, schaue ich gern in die Zukunft – oder zumindest in Filme, die von der Zukunft handeln. "2001: Odyssee im Weltall" gucke ich mit Vorliebe, und am liebsten mag ich die Szenen mit dem Bordcomputer Hal 9000, der erst ein so tüchtiger Diener ist und der schließlich zum Herrn im Raumschiff wird. Oder "Minority Report" über im wahrsten Sinne des Wortes vorausschauende Polizeiarbeit, die mit moralischen Nebenwirkungen einhergeht. Die Zukunftswerke könnten bald eines gemein haben, nämlich dass sie ganz schön vergangen wirken. Denn alles, was wir gerade rund um die künstliche Intelligenz (KI) erleben, wirkt weit futuristischer als jedes Hollywood-Drehbuch. "Sie wird unsere Gesellschaft mehr verändern als das Internet", sagt Richard Socher, als Deutscher derzeit einer der angesagtesten KI-Forscher im amerikanischen Silicon Valley.

Unser Titelgeschichten-Team hat dem gebürtigen Dresdner die Frage gestellt: Was macht das mit uns Menschen – und mit unserer Arbeit? Der Forscher sagt gelassen, auch Kutscher hätten einst ihre Jobs verloren, als das Auto erfunden wurde, sie hätten halt neue gefunden. Wie KI unsere Gesellschaft verändert, darauf hat auch der kluge Herr Socher keine Antwort: "Wenn immer mehr Industrien und Jobs automatisiert werden, haben wir mehr Zeit, das zu tun, was wir wollen. Die Frage ist dann: Was wollen wir eigentlich?"

Übrigens: eine Analyse von writerbuddy.ai, einer KI-Schreibhilfe, ergab, dass mehr als 80 Prozent der weltweit am besten finanzierten Unternehmen, die künstliche Intelligenz einsetzen, in den USA sitzen – während aus Europa kein einziges Start-up dabei ist. Man braucht keine KI, um zu begreifen, dass das nicht sonderlich vernünftig ist.

Rekonstruktion einer unbegreiflichen Tat

Keine künstliche Intelligenz der Welt kann uns helfen zu verstehen, was einen Menschen zu einem Amoklauf bewegt. In Hamburg hat Philipp F. vorige Woche sieben Menschen, unter ihnen ein ungeborenes Kind, und sich selbst getötet. Acht weitere wurden verletzt, als er in einer Versammlung der Zeugen Jehovas das Feuer eröffnete. Die Tat lässt sich nicht erklären, aber die Umstände aufzuklären gehört zu unserer Aufgabe. Ein stern-Team hat die Details der Tat rekonstruiert und ist auf bislang nicht bekannte Umstände gestoßen. So veröffentlichte der Amokläufer, als Sportschütze legal im Besitz einer Waffe, ein Buch, in dem er krude Thesen über Hitler und die NS-Zeit äußerte. Ob die Hamburger Polizei das Buch kannte, will sie nicht verraten. Sie hätte ein Ermittlungsverfahren gegen den Mann einleiten können, wegen Volksverhetzung. Seine Waffen wäre er dann wohl los gewesen.

Christine Lagarde, erste Frau an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB), traf sich vorige Woche mit den Redaktionen von stern und "Capital" in Berlin, unmittelbar vor einem Treffen mit dem Bundeskanzler. Lagarde, die auch die erste Frau an der Spitze des Internationalen Währungsfonds war, wurde zuletzt häufig vorgeworfen, sie konzentriere sich zu sehr auf "weiche" Themen wie Klimaschutz und Frauenrechte. Sie solle sich lieber um die Inflation kümmern, so der Unterton. Was Lagarde dazu genau sagte, darf ich nicht verraten; es handelte sich um ein Hintergrundgespräch, bei dem Vertraulichkeit vereinbart worden war. Nur so viel sei verraten: Die EZB-Chefin machte klar, dass ihr Fokus sehr wohl auf der Geldstabilität liegt. Aber die anderen Themen wird sie nicht von ihrer Agenda nehmen, weil sie für sie Herzensthemen sind. Und das ist auch gut so.

Erschienen in stern 12/2023