Frau Sepehri, anderthalb Jahre nach Beginn der "Frau, Leben, Freiheit"-Proteste fanden am 21. Februar in Iran Parlamentswahlen statt. Schon 2020 war die Wahlbeteiligung im Iran historisch niedrig. Beim jüngsten Urnengang wird ein neuer Tiefstand erwartet: 15.000 Kandidaten, 290 Sitze im Parlament – und nur gut 41 Prozent Wahlbeteiligung. Glauben Sie an den Wert?
Daniela Sepehri: Natürlich nicht. Schon Wochen vor der Scheinwahl in Iran hat ein niederländisches Institut angekündigt, dass 77 Prozent der Bevölkerung voraussichtlich nicht wählen geht. Selbst regimenahe Institutionen und Nachrichtenagenturen haben gesagt, dass in Iran nur rund 30 Prozent wählen werden, in Teheran liegt der Anteil nur bei 15 Prozent. Die 41 Prozent der Islamischen Republik Iran ist eine Propagandazahl, die einfach so übernommen wird, darauf sollten wir als ausländische Medien nicht reinfallen.
Wer wird zur Wahl zugelassen?
Sepehri: Zur "Wahl" werden nur diejenigen zugelassen, die von einem sogenannten "Wächterrat" genehmigt werden. Das sind 12 alte Männer, ich glaube, der älteste ist fast hundert Jahre alt. Im Endeffekt sind es alle Marionetten des Regimes, eine echte Opposition wird nicht zugelassen. Zur "Wahl" stand auch der sogenannte Expertenrat, der die Nachfolge des obersten geistlichen Führers Chameneis bestimmen sollte. Wo die Menschen ihr Kreuz setzen, spielt in der Regel keine Rolle.

Zur Person
Daniela Sepehri, Journalistin und Sprecherin in den sozialen Netzwerken für Migration und Iran
Die Illusion, dass man mit Wahlen etwas verändern kann, macht sich in Iran niemand mehr?
Sepehri: Spätestens nach den "Frau, Leben, Freiheit"-Protesten war klar, dass das Regime jede Legitimation für einen Großteil der Bevölkerung verloren hat. Warum sollte eine Mutter, deren Sohn auf der Straße getötet wurde, dieses Regime an der Wahlurne durch die Abgabe ihrer Stimme legitimieren? Warum sollte eine Person, deren Elternteil als politischer Gefangener inhaftiert ist, diese Regime an der Wahlurne durch die Abgabe einer Stimme legitimieren? Es gibt einen Slogan, den die Menschen ins Netz gestellt haben: Wir haben euch nichts zu sagen, außer einem Wort: "Nein."
Aus geleakten Umfragen, die das Regime in Auftrag gegeben haben soll, soll hervorgehen, dass 70 Prozent der Bevölkerung für eine Abschaffung des Regimes plädieren. Wäre das nicht eine kritische Masse, die einen Systemwechsel herbeiführen könnte?
Sepehri: Ich glaube ganz fest daran, dass dieses System der Islamischen Republik Iran gestürzt werden kann. Dafür ist aber wichtig, dass der sogenannte Westen aufhört, dieses System zu unterstützen. Deutschland ist der stärkste Handelspartner innerhalb der EU. Eine USA, die auf einen Schlag sechs Milliarden US-Dollar freigibt an eingefrorenen Geldern, um amerikanische Geiseln aus Iran freizukaufen, legitimiert das Regime und hält es finanziell am Leben. Für einen Systemwechsel reicht es also nicht, wenn die Menschen innerhalb des Landes auf die Straße gehen. Aus europäischer Perspektive lässt sich das sehr einfach sagen – aber für die Menschen in Iran ist es lebensgefährlich. Und dennoch tun sie es. Wir sollten sie unterstützen, indem wir aufhören, ihnen zusätzliche Steine in den Weg zu legen.
Die Islamische Republik Iran sperrt jegliche Andersdenkende ein und versucht, sie zum Schweigen zu bringen. So auch im Fall meiner Mutter.
Frau Claren, seit Oktober 2020 muss Ihre Mutter, die Deutsch-Iranerin Nahid Taghavi, deutsche Staatsbürgerin, eine zehnjährige Haftstrafe im Evin-Gefängnis absitzen. Warum?
Mariam Claren: Warum ist die Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi inhaftiert? Warum sind die beiden Journalistinnen Elahe Mohammadi und Niloufar Hamedi inhaftiert? Warum ist der Musiker Toomaj Salehi inhaftiert? Weil die Islamische Republik Iran jegliche Andersdenkende einsperrt und versucht, sie zum Schweigen zu bringen. So auch im Fall meiner Mutter. Als Frauenrechtlerin war sie mehr als vier Jahrzehnte aktiv, das Regime warf ihr Gefährdung der nationalen Sicherheit vor. Hinzu kommt, dass ihre deutsche Staatsbürgerschaft ein wertvolles Faustpfand darstellt.