Die größten Dummheiten begehen immer nur die anderen. Unsägliche Trends, so hoffte ich, landen nicht so schnell in meinem Umfeld. Menschen, die mir nahestehen, machen das doch nicht mit, dachte ich. Oder man gewöhnt sich daran, denn: Was man nicht wegwerfen kann, muss man mögen! Das hat mir der Junge beigebracht, der mir Blumen schenkte, als ich zwölf war. Ich mochte keine Lilien, behielt sie aber, weil ich den Jungen mochte – und akzeptierte damit auch die höllischen Kopfschmerzen, die sie mir bereiteten
Jetzt aber gibt es einen Trend, von dem ich nie dachte, dass er meine kleine Welt erreicht: diese Hyaluron-Lippen.
Ich kann das nicht gut sehen, nicht einmal, wenn es "gut gemacht" ist. Ich fixiere diese Lippen, als wären sie voll mit Herpes. Das erste Mal nahm ich Hyaluron-Lippen wahr, als sie das Gesicht einer Schauspielerin zerstörten, die ich als Teenager verehrt hatte, das von Emmanuelle Béart. Im Film des Regisseurs Claude Sautet, "Ein Herz im Winter", spielte sie eine Geigerin, gefangen in einer Dreiecksgeschichte. Französisch subtil wie ein Klischee. Irgendwann später stand sie auf dem roten Teppich an der Côte dʼAzur und wirkte mit ihren groß gespritzten Lippen wie die Karikatur ihrer selbst. Die Franzosen beschimpften sie lieblos in den Kommentarspalten der Gazetten: ein Entenmund! Was natürlich meine Schutzinstinkte weckte: Darf doch jede Frau mit ihrem Mund tun und lassen, was sie will!
Die Weisheit einer französischen Diva
Es ist hart, vor den Augen der Öffentlichkeit zu altern. Nicht jede Frau besitzt das Selbstbewusstsein einer Catherine Deneuve, die, als man sie wegen ein paar Kilo mehr kritisierte, lächelnd gesagt haben soll: "Ab einem gewissen Alter muss sich eine Frau zwischen ihrem Hintern und ihrem Gesicht entscheiden." Eine Grande Dame, lakonisch und brutal mit sich und den Idealen ihrer Zeit.
Vor ein paar Jahren noch spritzten Prominente, weil sie in einer Gesellschaft lebten, die sie auf ihr Äußeres und ihre Sexyness reduzierte. Schönheit und Alter, da wäre noch viel zu lernen für uns alle.
Der Spiegel wurde vom Display ersetzt
Der aktuelle Hyaluron-Lippen-Trend hat mit Alter wenig zu tun, schon Frauen ab 20 sind dabei. Es wäre jetzt feministisch zu rufen: "Wenn es ihnen gefällt!" Was jedoch nicht die Frage beantworten würde, warum es ihnen gefällt. Der Blick aufs eigene Gesicht beschränkt sich nicht mehr aufs Spiegelbild und den Vergleich mit echten Frauen. Den Blick aufs eigene Gesicht prägen die Handykamera und die Frauen weltweit, die sich nur noch mit Filtern zeigen – weil ein Gesicht ohne viel Make-up-Tamtam oder Beautyfilter auf Displays wirkt, als wäre es krank. Das künstliche Gesicht ist normal geworden. Die Instagrammability unserer Gesichter definiert für viele, wie sie sich schön finden – warum nicht auch jenseits des Displays?
Sagen die Männer dieser Frauen ihnen, dass diese Lippen ihnen gefallen? Ich lese, auch immer mehr Männer lassen sich Hyaluron spritzen, etwa weil ihre Lippen nicht ganz symmetrisch sind. Mein Gott, das war bei fast allen Supermodels der Achtziger so!
Haben bald alle Lippen wie früher nur Pamela Anderson
In Kroatien, wo ich oft den Sommer verbringe und der Turbokapitalismus Trends früher offenbart, sehe ich schon seit Jahren junge Frauen aus Schönheitsfabriken treten, die man an die Strände baut, damit frau gleich Strandbilder machen kann.
Jetzt fängt das Ganze auch in meinem privaten Umfeld an. Seit Corona weiß ich: Ab diesem Moment hat sich so ein Virus längst stark verbreitet. Ich will jetzt niemanden vor Hyaluron retten. Sollen sie doch spritzen! Ich will nur nicht, dass bald jede Frau aussieht wie früher nur Pamela Anderson.