Yoga besteht aus mehr als nur Körper- und Atemübungen und beginnt nicht erst mit dem Ausrollen der Matte, sondern im Alltag des Übenden. Als ganzheitliche Praxis setzt Yoga an den Verhaltensmustern und Einstellungen eines jeden Einzelnen an.
Anleitung für Achtsamkeit
Dazu hat der indische Gelehrte Patanjali einen ethischen Verhaltenskodex aus zehn Regeln formuliert. Die sogenannten Yamas und Niyamas gelten nicht nur als Grundlage des Yoga, sondern verhelfen dem Übenden auch zu mehr Achtsamkeit im Alltag. Niedergeschrieben hat Patanjali die moralischen Grundsätze in den "Yoga Sutras", die als klassischer Leitfaden und wichtigstes Werk des Yoga gelten. Der Inder wird deshalb auch oft als "Vater des Yoga" bezeichnet.

Das Ziel im Yoga ist laut den Schriften Patanjalis das Erreichen von "Samadhi", einem Zustand höchsten Bewusstseins, in dem der Übende sich von den "Illusionen der materiellen Welt befreit". Um dorthin zu kommen, hat der Gelehrte einen achtgliedrigen Pfad beschrieben, an dessen Anfang die Yamas und Niyamas stehen. Beide Komplexe bestehen aus je fünf Verhaltensempfehlungen. Die Yamas beziehen sich auf die Beziehung zur Umwelt und den Mitmenschen, die Niyamas auf den Umgang mit sich selbst.
Der Verhaltenskodex erinnert an die zehn Gebote im Christentum. Darüber hinaus weisen Wissenschaftler, die sich mit der Interpretation der "Yoga Sutras" beschäftigen, immer wieder auf die Ähnlichkeit der ethischen Verhaltensregeln mit den moralischen Prinzipien der Weltreligionen hin. Für den Yoga-Schüler sollen sie eine Orientierung im Alltag bieten und die Yoga-Praxis vertiefen. Wer sich die zehn Grundsätze immer wieder in Erinnerung ruft, soll langfristig zu einem sorgsameren Umgang mit sich selbst, seinem Umfeld und zu mehr Achtsamkeit finden.
Die Yamas: Achtsamkeit in der Außenwelt
1. Ahimsa – Gewaltlosigkeit
Im ersten und zugleich wichtigsten Gebot geht es darum, Mitgefühl und Wohlwollen zu kultivieren und keinem Lebewesen Schaden zuzufügen. Das gilt sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch im Umgang mit sich selbst. Auch den eigenen Körper und den eigenen Geist sollte man achtsam behandeln. Jegliche Form von Gewalt ist zu vermeiden. Neben der körperlichen Ebene bezieht der Grundsatz sich auch auf die verbale und psychische Ebene – die Gedanken sollten frei von Gewalt sein. Manch einer sieht in dem Prinzip auch den Aufruf zu einer veganen Ernährung. Ahimsa gilt in jedem Fall als Grundlage des Lebens und als Basis für die folgenden Verhaltensregeln.
2. Satya – Wahrhaftigkeit
Im zweiten Yama geht es um Aufrichtigkeit, Loyalität und Ehrlichkeit. Was man im Inneren empfindet, sollte man stets ehrlich nach außen kommunizieren. Man sollte die Wahrheit sprechen und von Lügen absehen. Auch dieses Prinzip lässt sich auf sich selbst anwenden, indem man zu sich selbst ehrlich ist und sich nichts vormacht. Die Wahrheit zu sprechen, kann in manchen Fällen eine verletzende Wirkung nach sich ziehen. Dann gerät Satya in einen Konflikt mit Ahimsa. In solchen Fällen kommt es auf diplomatische Worte an. Manchmal kann aber auch Schweigen die bessere Wahl sein.

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3. Asteya – Nicht stehlen
Asteya geht über materielle Güter hinaus: Man sollte seinen Mitmenschen weder Besitztümer noch Zeit, Energie oder geistiges Eigentum rauben. Wenn man sich den Ideen anderer Menschen bedient, sollte man dies kennzeichnen und nicht als Eigenleistung verkaufen. In manchen Interpretationen von Asteya heißt es, dass Diebstahl bereits mit Neid und Missgunst beginne. Das Eigentum anderer Menschen sollte man gar nicht erst begehren. Stattdessen soll Asteya dem Übenden Genügsamkeit und Bescheidenheit lehren. Man solle nicht mehr Besitz verlangen, als man zum Leben braucht und zufrieden sein mit dem, was man hat.
4. Brahmachary – Enthaltsamkeit
In früheren Übersetzungen der "Yoga Sutras" wurde Brahmachary mit Keuschheit gleichgesetzt. Moderne Versionen sehen in dem Prinzip inzwischen den Appell zu Treue und einem maßvollen Leben. Man sollte in all seinen Handlungen ein Mittelmaß finden und weder abstinente noch exzessive Verhaltensweisen an den Tag legen. Quasi eine gesunde Selbstbeherrschung in allen Lebensbereichen.
5. Aparigraha – Bescheidenheit und Unbestechlichkeit
Aparigraha ruft den Übenden dazu auf, keine materiellen Besitztümer anzuhäufen. Ähnlich wie bei Asteya geht es im fünften Yama darum, die Gier zu zügeln und Zufriedenheit zu kultivieren. Somit könne man außerdem Bestechlichkeit vorbeugen und beispielsweise lernen, Geschenke, die mit der Erwartung einer Gegenleistung verbunden sind, abzulehnen. Ebenso wenig wie an materielles Gut sollte man sich an bestimmte Situationen oder Gefühle binden. Der bekannte Yoga-Guru B.K.S Iyengar sah die "Starrheit des Denkens" als Hindernis für die persönliche Entwicklung. Deshalb sollte der Yoga-Schüler seine Gedanken, Meinungen und Einstellungen immer wieder hinterfragen und gegebenenfalls loslassen.
Mit Yoga zu mehr Stärke und Kraft: Wetten, dass dich diese Übungen ins Schwitzen bringen?

Stehe aufrecht mit den Füßen hüftbreit auseinander, atme ein, während du die Hände vor dem Herzen zusammen nimmst. Spanne deine Körpermitte an und rolle die Schultern nach hinten. Atme ruhig und kontrolliert wieder aus. Diese Übung dient dem innerlichen Sammeln. Bereite dich innerlich auf deine Yoga-Session vor, komm erstmal auf deiner Matte an. Spüren und Wahrnehmen sind angesagt – jetzt ist nichts anderes wichtig als du und diese Zeit für dich.
"Die Yamas sind überall einzuhalten, unabhängig vom eigenen Status, dem Ort, der Zeit oder den äußeren Umständen – sie stellen das große Gelübde dar", übersetzt der Indologe Georg Feuerstein aus den "Yoga Sutras". An dieser Stelle wird noch einmal die essentielle Bedeutung klar, die die moralischen Grundsätze im Yoga einnehmen. Während die Yamas das Sozialleben regeln, beziehen die Niyamas sich auf den Übenden selbst. Die fünf Regeln sind eine Art kurzer Leitfaden für eine gesunde Beziehung und einen achtsamen Umgang mit der eigenen Person.
Die Niyamas: Mehr Achtsamkeit mit sich selbst
1. Sauca – Reinheit
Der erste Grundsatz bezieht sich sowohl auf das Innere wie auch auf die äußerliche Umgebung. Reinheit meint sowohl die Körperhygiene, eine gesunde Ernährung als auch "saubere" Gedanken. Der Übende sollte stets daran arbeiten, eine positive Lebenseinstellung einzunehmen. Sauca meint aber auch die räumliche Umgebung, sprich eine aufgeräumte Wohnung und einen sauberen Arbeitsplatz. Das hat nämlich wiederum großen Einfluss auf die geistige Verfassung. Wissenschaftler konnten bereits öfter nachweisen, dass Menschen in unaufgeräumten Wohnungen sich unglücklicher und gestresster fühlen und zu ungesünderen Verhaltensweisen neigen.
2. Samtosa – Zufriedenheit
Dieses Prinzip ist eng verwandt mit Asteya und Aparigraha. Samtosa ruft ebenfalls dazu auf, sich auf das Notwendigste und Wichtigste zu konzentrierten. Man solle zufrieden mit seinem Leben und seinem Besitz sein und alle Ereignisse so nehmen, wie sie kommen. Das bedeutet nicht, dass man nicht nach Veränderung streben oder sich nicht weiterentwickeln sollte. Eher geht es bei Samtosa darum, Dankbarkeit für den Moment und die eigene Reise zu entwickeln, indem man sich beispielsweise nicht mit anderen Menschen vergleicht oder unangenehmen Situationen gelassener entgegensieht.
3. Tapas – Disziplin
Wörtlich übersetzt heißt "Tapas" so viel wie "Hitze", im übertragenen Sinne bedeutet das Wort Eifer und Disziplin. Der Yoga-Schüler sollte quasi für seine Praxis "brennen" und konstant üben. Mehrere Interpretationen der "Yoga Sutras" unterstreichen, dass dazu neben dem körperlichen Aspekt auch die geistige Disziplin gehört: Der Verzicht auf "Annehmlichkeiten, die Körper und Geist auf lange Sicht schwächen". Man sollte ungesunde Vergnügen wie Alkohol also nicht zur Gewohnheit werden lassen.

Daneben sei es außerdem wichtig, seine Gedanken zu disziplinieren, um in allen Lebenslagen einen kühlen Kopf bewahren können. Mit dieser Einstellung und etwas Geduld könne der Übende jegliche Widerstände – egal ob körperlicher oder geistiger Natur – überwinden.
4. Svadhyaya – Selbststudium
Bei Svadhyaya geht es darum, sich immer wieder mit sich selbst zu beschäftigen. Man soll zum Beobachter des eigenen Innenlebens werden. Die eigenen Gedanken und Gefühle kennenlernen und gleichzeitig Einstellungen, Gedanken und Verhaltensweisen kritisch hinterfragen. So soll sich der Übende langfristig der eigenen Mitte annähern.
5. Ishvarapradnidhana – Hingabe an das Göttliche
Im letzten Niyama geht es um den Glauben an etwas Größeres. "Das Göttliche" ist in den "Yoga Sutras" nicht näher definiert. Es geht also nicht um einen religiösen Glaubensgrundsatz. Jedem Menschen sei es selbst überlassen, wie er "das Göttliche" für sich auslegt. Die meisten Interpretationen der "Sutras" sprechen bei Ishvarapradnidhana davon, dass der Übende lernen soll, sein Schicksal anzunehmen. Einerseits sollte man Vertrauen in den Lauf des Lebens entwickeln und andererseits akzeptieren, dass man äußere Umstände nicht immer beeinflussen kann. Wie auch im Samtosa soll der Yoga-Schüler Dankbarkeit für den Moment lernen.
Quellen: "Foundation Teacher Training and Introduction to Yoga", "Lotuscraft", "Spektrum der Wissenschaft", "The Yoga Sutras of Patanjali – a New Translation and Commentary", "Yoga Journal", "Yoga Welten"