Heiligenstadt, so heißt der U-Bahnhof im 19. Bezirk, wenn man in Wien die Linie U4 ganz bis Norden durchfährt. Es ist die Endstation. Und das darf man auch ruhig ein wenig metaphorisch verstehen.
Gegenüber liegt der Haupteingang zum so genannten Karl-Marx-Hof, es ist eine der ältesten Wiener Gemeindebausiedlungen, entstanden Ende der Zwanziger Jahre. Hier lebte auch Robert A., den sie in Österreich nur den "Kannibalen" nennen. Hier wohnte er immer wieder, wenn er nach seinen Aufenthalten in der Psychiatrie entlassen wurde, wenn er mal nicht in einer betreuten Wohngemeinschaft lebte.
Kein Ort für Illusionen
Es gibt sehr viele schöne Gegenden in dieser Stadt, die ja aussieht wie ein großes Freiluft-Museum, aber der Karl-Marx-Hof gehört sicher nicht dazu. Viele hundert Meter lang sind die Wohnblocks, in Zieldach-Rot gestrichen; dazwischen großzügige Rasenflächen mit Schildern drauf, die das Fußballspielen verbieten. Der Himmel ist bedeckt, und die Mädchen hier tragen bauchfreie Tops mit Daunenweste drüber und die Männer Trainingsanzüge und Sandalen. und am Würstelstand auf der anderen Straßenseite spielen sie ein Lied von Smokie. Es ist irgendwie kein Ort für Illusionen.
Als der Vater vor einigen Jahren seine Familie sitzen ließ, zog Brigitte A., die heute 52 ist, nach einer Weile mit ihren drei Kindern hierher; das Häuschen mit Garten in der Vorstadt konnte sie nicht länger zahlen als allein erziehende Mutter. Aber es wäre auch falsch, aus der Biographie des Robert A. ein Drama vom sozialen Abstieg nach dem Verlust des Vaters zu machen. "Dies sind ganz sicher keine desolaten Familienverhältnisse", sagt Chefermittler Gerald Höbarth, der noch am Donnerstagvormittag mit der Mutter telefoniert hat, "das ist ein ganz normale bürgerliche Familie."
Roberts zwei Jahre älterer Bruder hat sogar Abitur, was in dieser Gegend eher ungewöhnlich ist, und seine 18-jährige Schwester ist jetzt in der Abschlussklasse am Gymnasium. Nächste Woche geht die Schule wieder los. Eigentlich. "Für das Mädchen ist es eine Katastrophe", sagt Höbarth. Er sagt: "Die Berichterstattung mancher Boulevardmedien wird ihr den Schulanfang nicht leichter machen." Nachdem die Kronenzeitung die Adresse veröffentlich hat, fand die Familie vorerst bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf. Höbarth: "Die Mutter versucht jetzt, die ganze Sache in den Griff zu bekommen, aber natürlich geht’s ihr schlecht." Inzwischen wird sie auch psychologisch betreut.
Bis zuletzt Kontakt zur Mutter
Bis zuletzt hatte Robert A. den Kontakt zu seiner Mutter gepflegt; vor drei Wochen noch hatte er sie besucht. Zwischen der U-Bahnhaltestelle nahe dem Haus in der Reichsapfelgasse und dem Karl-Marx-Hof liegen gerade mal 14 Haltestellen. Und doch sind es jetzt Welten.

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Brigitte A. hatte bereits früh erkannt, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte. Dass er schon als Kind verhaltensauffällig war. Sie hatte ihn zu Psychologen geschleppt, immer wieder wurde er wegen seiner Psychosen in die Nervenkliniken der Stadt eingeliefert, stationär behandelt, mit Medikamenten ruhig gestellt. Und wenn er wieder draußen war, hat er einfach die Pillen abgesetzt; Psychopharmaka machen bekanntlich müde, lethargisch, man fühlt sich unwohl. Stattdessen nahm Robert A. regelmäßig Speed.
Am Ende wird man niemandem einen Vorwurf machen können. Das österreichische Rechtssystem erlaubt eine Zwangseinweisung selbst bei paranoider Schizophrenie nur dann, wenn Patienten als selbst- oder gemeingefährlich eingestuft werden. Ermittler Höbarth sagt: "Diese Risikoprognose lag bei Robert A. nie vor."
"Konnte ihn nicht zwingen, Medikamente zu nehmen"
Es war Donnerstagmorgen, sieben Uhr früh, als die Polizei, den privaten Sozialarbeiter Werner O. endlich zu fassen bekam und zur Vernehmung ins Kriminalkommissariat West mitnehmen konnte. O. bekommt seine Klienten von Anwälten vermittelt oder anderen Vormundschaftsstellen; oft ist er die letzte Rettung, bevor ein Mensch durch den sozialen Rost rutscht. Um Robert A. kümmert er sich nach eigenen Angaben seit Mitte April, er hatte ihm auch die Wohnung in der Reichsapfelgasse vermittelt. Bei O. steht das Telefon seit Dienstag nicht mehr still, seit der grausame Fund durch die Medien ging. O. geht fast nie ran. Jetzt besteht er darauf, dass auch ihn keine Schuld an dieser Tragödie treffe. "Ich konnte ihn doch nicht dazu zwingen, seine Medikamente zu nehmen."
Vor dem Haftprüfungstermin am Donnerstagmorgen hat ein Amtsarzt Robert A. kurz untersucht und für unzurechnungsfähig befunden. Untersuchungsrichterin Barbara Reinprecht ließ ihn daraufhin vorläufig in die Klinik Göllersdorf in Niederösterreich einweisen, eine Anstalt für "geistig abnorme Rechtsbrecher", wie der Sprecher des Staatsanwaltschaft das nennt. Und nach allem, was man über die Krankengeschichte des Robert A. weiß, war er dort schon mal vor zwei Jahren zur stationären Behandlung.
Von der Gerichtsmedizin soll Freitag, spätestens am Montag ein Gutachten vorliegen, das endgültig klärt, ob die Kannibalismus-Vermutung zutrifft. Die Mediziner versuchen gerade, den zerfledderten Leichnam zusammenzusetzen – es ist ein grauenhafter Job, aber nur so können sie feststellen, ob Körperteile fehlen, die Robert A. möglicherweise verspeist hat. Parallel soll eine psychiatrische Untersuchung klären, ob Robert A. für seine abscheuliche Tat überhaupt schuldfähig ist. Seine Mutter hat für ihn erstmal einen der berühmtesten Strafverteidiger der Stadt engagiert; Montag, wenn er aus seinem Urlaub zurück ist, wird der sich mit dem Fall beschäftigen. Ob es überhaupt zur Anklage kommt, hängt von der psychiatrischen Expertise ab. Wird Robert A. für unzurechnungsfähig erklärt, bliebe ihm der Knast erspart. Aber ob er die Psychiatrie jemals wieder wird verlassen können, ist ebenso fraglich.