Die Kinder litten unter Ernährungsproblemen oder waren chronisch krank. Also schickten ihre Eltern sie für die Sommerferien an die See oder in die Berge. Das war das Prinzip der Kinderkuren, die in der Bundesrepublik von der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre gängig waren. Über Jahrzehnte wurden Millionen Kinder zu solchen, oft von den Krankenkassen bezuschussten Kuraufenthalten verschickt. Doch statt zu gesunden, kamen viele von ihnen traumatisiert aus den Ferien zurück. Viele der sogenannten Verschickungskinder waren von Betreuer*innen misshandelt worden, seelisch oder körperlich. Sie wurden geschlagen, zum Essen gezwungen oder durften nachts nicht auf die Toilette. Bis heute leiden viele von ihnen an den damaligen Erlebnissen.
Die meisten Verschickungskinder schwiegen jahrzehntelang über ihr Schicksal. Erst in den vergangenen Jahren haben sich nach und nach einige zu Wort gemeldet. Im Herbst 2020 machte sich Tobias Fenneker, Redakteur beim westfälischen Lokalsender „Radio Hochstift“, auf die Suche nach Betroffenen aus seinem Sendegebiet und ließ sie ihre Geschichten in einem Radio-Feature selbst erzählen. Die große Publikums-Resonanz auf die Veröffentlichung zeigte ihm, wie viel Aufklärungsbedarf zu diesem Thema sich bis heute aufgestaut hat. Der Beitrag „Verschickungskinder aus dem Hochstift“ nimmt in der Kategorie „Lokal“ am Wettbewerb um den Nannen Preis 2021 teil.
Herr Fenneker, über das Leid der Verschickungskinder in der alten Bundesrepublik ist bisher nur selten ausführlich berichtet worden. Wie sind Sie auf das Thema gestoßen?
Über eine kleine Meldung im September 2020. Die SPD-Fraktion hatte im nordrhein-westfälischen Landtag einen Antrag gestellt: Die Landesregierung solle sich doch intensiver mit dem Schicksal der Verschickungskinder beschäftigen. Im Landtag gab es eine kurze Debatte dazu. Und wie das dann oft so ist, wurde auf eine Arbeitsgruppe verwiesen. Das Land NRW will in erster Linie den Bund unterstützen. Das war‘s dann aber auch.
Politisch fand das Thema bisher also wenig Widerhall. Wie kamen Sie darauf, dass Ihre Hörer sich trotzdem dafür interessieren könnten?
Was mich aufhorchen ließ, war eine Zahl aus dem Antrag: Bundesweit soll es etwa zehn Millionen Betroffene geben. Ich dachte, das ist ja der Wahnsinn, dass vielleicht jeder achte Deutsche ein solches Schicksal erlitten haben könnte. Mir war schnell klar: Dann muss es auch bei uns im Sendegebiet Betroffene geben.
Wieso war es wichtig, Betroffene aus dem Einzugsgebiet von „Radio Hochstift“ zu finden? Es geht hier doch um einen Missstand, der Menschen aus ganz Deutschland betrifft.
Im Lokaljournalismus ist es ganz wichtig, die Themen, die wir aufgreifen, lebendig werden zu lassen, indem wir sie am Beispiel von Menschen erzählen, die eindeutig aus unserem Sendegebiet kommen. Wenn Menschen in unseren Geschichten vorkommen, die hier leben, hat unsere Berichterstattung vor Ort eine viel höhere Relevanz.
Wo liegt die Region Hochstift, die ihrem Sender den Namen gibt?
Unser Sendegebiet umfasst die Kreise Paderborn und Höxter. 450.000 Menschen leben hier, das Oberzentrum ist Paderborn, hier hat auch „Radio Hochstift“ seinen Hauptsitz. Der Name Hochstift bezieht sich auf das ehemalige Hochstift Paderborn, ein ehemaliges Fürstbistum hier im Südosten Westfalens.
Wie haben Sie sich auf die Suche nach Verschickungskindern aus Ihrer Gegend gemacht?
Über eine SPD-Ratsfrau aus Paderborn kam ich in Kontakt mit einem der Landtagspolitiker auf, die den Antrag gestellt hatten – dem SPD-Abgeordneten Dennis Maelzer. Der kannte zwar selbst keine Betroffenen aus unserem Sendegebiet, konnte mir aber einen Kontakt zu Detlef Lichtrauter vermitteln. Er ist NRW-Koordinator der „Initiative Verschickungskinder“, in der sich Betroffene organisieren und für die Aufarbeitung kämpfen. Die Initiative wurde erst 2019 gegründet, denn selbst den meisten ehemaligen Verschickungskindern war wohl lange nicht klar, dass so viele Menschen in Deutschland ein ähnliches Martyrium durchleiden wie sie.
War es einfach, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen?
Nein, das dauerte mehrere Wochen. Herr Lichtrauter konnte mir zwar schnell Kontakte nennen, aber anfangs hat es nicht ganz gepasst. Eine Betroffene kam zum Beispiel aus dem Kreis Lippe. Der liegt außerhalb des Hochstifts, damit schied sie für meine Geschichte leider aus. Eine Weile später hat es dann geklappt, und Herr Lichtrauter machte mich mit Christine aus Delbrück bekannt, einer 30.000-Einwohnerstadt westlich von Paderborn. Ich nenne nur ihren Vornamen, weil sie nicht möchte, dass ihr Nachname in der Berichterstattung auftaucht.
Dann haben Sie Kontakt zu Christine aufgenommen. Wie hat sie reagiert?
Es war nicht einfach, sie zu überzeugen, mit mir zu sprechen. Mit über 70 Jahren hatte sie erst einmal Hemmungen, einen fremden Mann von Anfang 30 bei sich zu empfangen. Noch dazu jemanden, der mit ihr über das Thema sprechen möchte, das sie ihr ganzes Leben lang immer wieder belastet hat. Mit ihren Eltern habe sie über die Erlebnisse während der Verschickung nie sprechen können, sagte sie mir.
Wie haben Sie versucht, Christine zu überzeugen, sich zu öffnen nach all der Zeit?
Ich habe über Wochen hinweg mehrfach mit ihr telefoniert. Ich habe ihr erklärt, dass es mir nicht um einen reißerischen Bericht geht, sondern, dass ich dafür sorgen möchte, dass mehr Menschen vom Leid der Verschickungskinder erfahren. Ich habe versprochen, dass ich mir Zeit nehme, ihr in Ruhe zuzuhören. Als sie schließlich eingewilligt hat, bin ich direkt zu ihr gefahren.
Wie verlief diese erste Begegnung?
Sie dauerte zwei Stunden und war sehr berührend. Christine erzählte davon, wie sie am Vorabend noch mit ihrem Sohn besprochen hatte, ob sie das Interview geben soll. Sie wohnt im Delbrücker Ortsteil Ostenland, dort kennt natürlich jeder jeden. Das Gespräch fand im Wohnzimmer statt, ihr Mann blieb in der Küche und kochte. Ich hatte das Gefühl, dass es ihm vielleicht nicht so recht ist, wenn dieses schwierige Thema wieder auf den Tisch kommt. Christine selbst konnte wegen Gelenkschmerzen nicht auf einem normalen Stuhl sitzen, sondern nur auf einem verstellbaren Sessel, auf dem sie die Beine hochlegen konnte. Dass sie diese Strapazen auf sich nahm, um mit mir über dieses für sie so belastende Thema zu sprechen, hat mich sehr beeindruckt.
Warum war Christine bereit, diese schweren Erinnerungen im Gespräch mit Ihnen noch einmal zu durchleben?
Meine Anfrage kam wohl einfach zum richtigen Zeitpunkt. Sie hatte zuvor im Internet in der Gruppe der „Initiative Verschickungskinder“ gelesen, wie viele Betroffene es gibt. Daraufhin kam ihr wohl die Idee, dass das Thema grundsätzlich auch in regionalen Medien aufgearbeitet werden müsste. Sie fand es gut, dass sich endlich jemand für dieses millionenfache Schicksal interessiert.
Waren auch andere Betroffene bereit, ihnen von ihren Erlebnissen während der Verschickung zu erzählen?
Ich war mit mehreren Betroffenen in Kontakt. Eine zweite Gesprächspartnerin hat die Aussicht auf das Interview mit mir so stark aufgewühlt, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Sie fand es super, dass wir über das Leid der Verschickungskinder berichten wollten. Aber sie fand für ein direktes Gespräch letztlich nicht die Kraft. Stattdessen hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Eine Kollegin hat den Text anschließend fürs Radio eingesprochen und vertont. Fast alle, die ich kontaktierte, sagten: „Endlich hört uns mal jemand, endlich holt jemand unser Schicksal auf den Tisch.“ Niemand hat gesagt: „Hören Sie endlich auf mit diesem Thema, Sie reißen alte Wunden auf.“ Das fand ich besonders schön. Gerade weil es ja für keinen der Betroffenen einfach war, mit mir über diese schmerzlichen Erlebnisse aus der eigenen Kindheit zu sprechen.
Es fällt auf, dass vor allem Frauen bereit waren, ihre Erlebnisse während der Verschickung mit Ihnen zu teilen. Woran liegt das? Betrifft das Thema Frauen mehr als Männer?
Nein, das Thema betrifft Frauen und Männer gleichermaßen. Ich glaube aber, dass Männer nach wie vor noch viel zurückhaltender als Frauen sind, über ihre Erlebnisse als Verschickungskinder zu sprechen. Tatsächlich kamen auch die zahlreichen Publikumsreaktionen in den sozialen Medien auf unsere Radiosendung fast ausschließlich von Frauen.
Sie arbeiten eigentlich als Nachrichtenredakteur, ein schnell getakteter Job am Puls der Tagesaktualität. Trotzdem sind Sie über drei Monate am Thema der Verschickungskinder drangeblieben.
Mir war es mir wichtig zu zeigen, dass es auch noch andere Themen als Corona gibt. Die Flut der Rückmeldungen zeigt mir, dass ich mit dem Thema einen Nerv getroffen habe. Alleine auf Facebook haben sich nach der Sendung mehr als 100 Betroffene gemeldet. Auf der Sonderseite, die wir zu dem Thema auf unserer Homepage eingerichtet haben, steht auch meine E-Mail-Adresse – für Menschen, die uns ihre Geschichte erzählen möchten. Auch darüber gingen Dutzende Nachrichten ein.
Was stand darin?
Manche Menschen schrieben: ‚Mir ist es auch passiert.‘ Da gab es aber auch andere, die sagten: ‚Es ist mir fast peinlich, dass ich davon nichts wusste.‘ Anfangs habe ich noch allen Betroffenen über die Facebook-Kommentar-Funktion vorgeschlagen, dass sie uns ihre Geschichten per Mail schicken sollen, damit wir sie auf unsere Seite stellen können. Irgendwann kam ich gar nicht mehr hinterher – so viele meldeten sich.
Gab es auch Reaktionen von offiziellen Stellen, etwa den Krankenkassen, die die Kinderlandverschickungen über Jahrzehnte finanziert haben? Oder von ehemaligen Angestellten aus den Verschickungsheimen?
Von ehemaligen Angestellten nicht. Ich habe im Vorfeld bei ein oder zwei größeren Krankenkassen angefragt. Da herrschte, diplomatisch ausgedrückt, Zurückhaltung. Die wissen natürlich ganz genau, dass es für sie ein heikles Thema ist. Leider ist in fast allen Fällen für eine Aufarbeitung zu viel Zeit vergangen. Viele Betroffene wissen gar nicht mehr, auf welchem Weg oder über welche Krankenkasse sie in die Kurheime gekommen sind. Auf die wenigen konkreten Nachfragen zu Einzelfällen, mit denen ich Krankenkassen konfrontieren konnte, bekam ich stets die gleiche Antwort: „Wir dürfen aus datenschutzrechtlichen Gründen nichts sagen.“
Qualitätsjournalismus – wie wird der heutzutage eigentlich gemacht? Wie kommt ein Thema auf? Welche Quellen nutzen Reporter*innen für ihre Recherche? Welche Möglichkeiten bieten neue und traditionelle Medien? Welche Rolle spielt die Presse für eine lebendige, demokratische Gesellschaft? Um diese und andere Fragen zum modernen Journalismus kreist unsere neue Serie zum Wettbewerb um den Nannen Preis 2021, den der stern und das Verlagshaus Gruner + Jahr ausrichten. Im Lauf der kommenden Wochen werden wir hier eine Reihe journalistischer Arbeiten aus dem aktuellen Wettbewerb um die renommierteste Auszeichnung für deutschsprachigen Journalismus näher beleuchten.