Professor Walter Schaffartzik reagiert verschnupft. Gerade hat der Ärztliche Leiter des Unfallkrankenhauses Berlin erläutert, wie Kliniken heute riskante Fehler vermeiden können. Doch wenden die rund 2000 deutschen Krankenhäuser die ausgeklügelten Sicherheitsprogramme auch breit an? Oder hat SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach recht? Der hatte im März gesagt: "Unser Hauptproblem ist, dass in den Krankenhäusern fast jeder Fall so behandelt wird, dass man sagen kann: Es wird improvisiert."
Schaffartzik sagt kühl: "Vielleicht weiß Herr Lauterbach da besser Bescheid." Nun ist der SPD-Mann mit der Fliege um den Hals um zugespitzte Äußerungen nie verlegen. Mangelnde Kenntnisse hat dem ausgebildeten Mediziner und Harvard-Gastdozenten aber wohl bisher kaum jemand vorgeworfen. Werden also die bestehenden Meldesysteme und Checklisten üblicherweise eingesetzt - und helfen gegen falsche OP-Abläufe, gegen mangelnde Vorsorge vor Infektionen oder unzureichende Medikamentengabe? Schaffartzik räumt ein: "Ich kann es Ihnen nicht sagen."
Die Frage drängt sich aber auf. Denn offizielle Vertreter der Ärzteschaft haben soeben ein Hohelied auf Arbeitsethos und Korrektheit der Mediziner gesungen. Wie jedes Jahr stellte die Bundesärztekammer die Statistik über jene Fälle von Verdacht auf Behandlungsfehler vor, die bei den Gutachterstellen der Ärzteschaft gelandet sind.
560 Millionen Behandlungsfälle in Kliniken und Praxen
Mehr als 12 200 Patientenanträge waren es 2012. 7578 Mal kam es zu einer Entscheidung, in 30 Prozent lag ein Fehler vor, in 82 Fällen ein tödlicher. "Das ist sehr wenig", sagt der zuständige Ärztekammervertreter Andreas Crusius über die Fehlerhäufigkeit angesichts von rund 560 Millionen Behandlungsfällen in Kliniken und Praxen. "Das ist keine schlechte Statistik, die wir hier präsentieren", sagt sein Kollege Johann Neu.
Allerdings gibt es insgesamt mehrere zehntausend Fälle, in denen Patienten meinten, Opfer von Ärzte- und Medizinfehlern geworden zu sein - und bei Ärzten, Krankenkassen oder auch direkt vor Gericht aktiv wurden. Und wie oft sie dies trotz Verdachts lassen, weiß niemand.
Wenn etwas schief läuft, hört sich das oft dramatisch an. Schaffartzik selbst weist auf eine Seite im Internet hin, auf der das Klinikpersonal Fehler anonym eintragen kann - so dass man möglichst daraus lernt und künftig alles besser macht.
Lange Fehlerlisten auf Websites
Fall Nummer 34902 ist erst wenige Tage alt. Ein Patient musste nachts reanimiert werden. Doch das verzögerte sich. Die einzige Pflegekraft war als Zeitarbeiterin ausgeliehen. Sie kannte den Standort der Notfall-Einheit nicht genau - ebensowenig wie der diensthabende Arzt. Bei der Frage nach den Gründen trug der unbekannt bleibende Arzt ein: "Leasingkräfte werden ohne ausreichende Einführung/Einarbeit eingesetzt. Es sind nicht alle Bereiche gut und deutlich beschriftet." Monatlich trete ein solcher Vorfall deshalb in dem Haus auf.
Der Fall, der auf der Meldeseite für den Monat Mai publik gemacht wurde, betraf eine Seniorin, die auf einem falschen OP-Tisch gelagert wurde und - bereits unter Narkose - umgelagert werden musste. Ursache: unter anderem mangelnde Ausbildung des Schleusenpersonals. Einmal pro Woche kommt sowas laut dem Eintrag eines Arztes in der betreffenden Klinik vor.

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Beim Fall des Monats April gaben die Ärzte ein Narkosemittel fälschlicherweise über einen zentrale Venenkatheter statt wie geplant über einen Katheder, der nur regional über die Wirbelsäule wirkt. Und im Vormonat passierte es, dass in einer chirurgischen Praxis ein Herzpatient unter Narkose gesetzt wurde, dann aber nicht operiert werden konnte - weil die Ärzte sich im Vorfeld nicht über die Medikamente abgesprochen hatten. Was war das Ergebnis? "Unnötige Narkose bei einem Risikopatienten, Gefährdung und Verunsicherung des Patienten, Zeit- und Ressourcenverschwendung." Es ist eine lange Fehlerliste allein auf dieser Homepage.