Okay, diese Kolumne wird ein Spaziergang über verdammt dünnes Eis, aber warum auch nicht? Ist ja Winter, alles friert über, und gelegentliche Einbrüche härten nur ab. Deshalb die Frage: Wieso ist es bei Hochzeiten neuerdings Pflicht, sich mit allerhöchstem logistischem Aufwand zum Affen zu machen und aus der Zeremonie eine mittlere Broadway-Inszenierung? Reicht zum Unglück nicht das Heiraten an sich?
Aber von vorn: 2009 kursierte ein Youtube-Video namens "JK Wedding Entrance Dance", das die Hochzeitsgesellschaft von Jill Peterson und Kevin Heinz zeigt, wie sie zu Chris Browns "Forever“ den Mittelgang einer Kirche entlangtanzte, statt gemessenen Schrittes zum Altar zu schreiten. Das war gut gelaunt, angenehm albern, sichtbar hastig geprobt und wacklig gefilmt - ein einziger großer Spaß. Der Spaß hörte auf, als in Nachrichtensendungen darüber berichtet wurde, das Hochzeitspaar in Talkshows auftrat und das Video 83 Millionen Klicks erntete plus einen eigenen Wikipedia-Eintrag.
Meike Winnemuth
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© Urban Zintel/DPA
Hollywood statt Hochzeitstanz
Seitdem gab es kein Halten mehr: Plötzlich pilzen überall Videos mit irre originellen, sorgfältig choreografierten Musicalnummern aus dem Boden, bei denen die gesamte Verwandtschaft von ihrer und seiner Seite inklusive Vettern zweiten Grades mittanzt, mitsingt und mitperformt, in der Regel nach wochenlanger Vorbereitung. Gedacht ist das natürlich zum Entertainment der Hochzeitsparty, vor allem aber für die Nachwelt: Da wird mit mindestens drei Kamerateams gedreht, professionell geschnitten und zackig hochgeladen. Zuletzt waren das unter anderem eine Hochzeitsgesellschaft, die zu Ehren der Braut eine bühnenreife Aufführung von "To Life" aus dem Musical "Anatevka" hinlegte, und ein Paar, das statt Hochzeitstanz die Schlussszene von "Dirty Dancing" aufführte, mit passenden Kostümen, Dialog und der berühmtesten Hebefigur der Filmgeschichte, gefilmt in geschmackvollem Schwarz-Weiß. Ergebnis ist ein sechseinhalbminütiges Video mit Making-of-Sequenz, das sogar das Tanztraining dokumentiert.
Wer glaubt, das sei ein rein angloamerikanisches Phänomen, irrt. Ebenso wie es Mode geworden ist, sich zwei bis vier Brautjungfern in identischen Kleidern in die Kirche zu stellen (die Frauenwebsite Fem.com diktiert: "Brautjungfern sind in diesem Jahr ein absolutes Muss. Tipps zu Kleidung, Verhalten und Pflichten findet man in jedem Hollywoodfilm übers Heiraten, wie zum Beispiel '27 Dresses‘ mit Katherine Heigl"), orientiert sich auch der Inszenierungsaufwand hierzulande ebenfalls längst an Hollywoodvorbildern mit entsprechendem Produktionsbudget. Die Zeiten, als Hochzeiten noch Laientheaterstücke waren, mit holprigen Auftritten und Abgängen, mit Brautraub und Bäume-Durchsägen und der gefürchteten Hochzeitszeitung, sind vorbei. Es muss schon was geboten werden, es muss schon was Youtube-taugliches dabei rumkommen.
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Immer höher liegt die Latte
Ach, ist doch in Ordnung, was hat die doofe misanthropische Frau nur wieder? Sollen die Leute doch nach ihrer Fasson selig werden. Klar. Wenn es denn wirklich ihre Fasson ist und nicht wieder nur ein weiteres "absolutes Muss". Wenn der angeblich glücklichste Tag im Leben nur glücklich sein kann mit einem daumendicken Drehbuch und dem Druck wochenlanger Proben, dann stimmt da was nicht. Als ob es nicht reicht, einfach nur zusammenzusitzen und zu feiern, dass zwei es miteinander probieren wollen. Als ob es nicht schon stressig genug wäre, diese Sache mit der Liebe für immer. Aber nein, wir müssen uns auch diese Latte immer noch höher legen: Hochzeit als Hochleistungssport.