Tag der Autobahnkirchen Zum Gebet hinter die Leitplanke: Eine Rast in der Autobahnkirche Medenbach

Blick auf die Autobahnkirche Medenbach
Am 25. Juni ist Tag der Autobahnkirchen. Das Gotteshaus an der A3 in Medenbach besuchen jährlich etwa 18.000 Menschen.
© Laura Hindelang
Zum bundesweiten Tag der Autobahnkirchen wollte unsere Autorin wissen: Wer macht Rast in den besonderen Gotteshäusern? An der Raststätte Medenbach-West fand sie neugierige Urlauber, viel Stille und bewegende Worte.

Die Pfarrerin hatte mich gewarnt. Ich hätte wirklich Taschentücher mitnehmen sollen. Bei den Worten, die ich im Anliegenbuch lese, steigen mir Tränen in die Augen. Insbesondere der Eintrag eines Mannes geht mir nahe: "Ich komme nicht über den Tod meiner Frau hinweg. Gibt ihr deinen Segen, ich vermisse sie so sehr. Oft haben wir diesen Rast in den letzten Jahrzehnten angefahren. Heute bin ich das erste Mal allein hier. Es tut so weh. Warum?"

Gotteshaus zwischen Zapfsäulen und Sanifair-Toiletten

Dieser Rast, die Autobahnkirche Medenbach, liegt direkt an der A3 bei Wiesbaden, auf der Raststätte Medenbach-West. Zwischen Nordsee-Imbiss und Tankstelle, zwischen Sanifair-Toiletten und Zapfsäulen. Eine freie Parklücke zu finden, ist nicht so einfach. An einem Samstagmittag im Juni ist viel los. Links stehen die Lastwagen, rechts die Autos. Jede Menge Menschen wuseln über den vermüllten Parkplatz – klassisches Autobahn-Chaos. Um dem kurz zu entkommen, soll die Kirche nach eigenen Angaben eine "Oase der Ruhe und Besinnlichkeit" bieten. Die Besucherzahlen errechnet die Pfarrgemeinde Medenbach aus den Kerzenverkäufen: Wer ein Licht anzünden will, wird um eine Spende von einem Euro gebeten. Das sind im Schnitt etwa 1000 Menschen im Monat. Da aber nicht jeder Besucher eine Kerze anzündet, geht die Kirche insgesamt von deutlich mehr Besuchern aus: 1500 pro Monat, im Schnitt etwa fünf pro Stunde. Heute bin ich einer davon.

Von Weinranken bewachsene Mauern umgeben die Kirche. Davor stehen mehrere Bänke aus Beton. Die Bäume, die rundherum gepflanzt wurden, machen den Vorhof der Kirche zu einem der einzigen schattigen Orte auf dem Rastplatz. Zwei Mädchen im Kindergarten-Alter haben sich dort niedergelassen, um ihre Brote zu essen. Hintern den Mauern führt eine offen stehende Glastür ins Innere. Die Kirche selbst ist aus rotbraunem Ziegelstein. Vor dem Altar, einem Block aus Granit, stehen Holzstühle. Schlichte Einrichtung, schlichte Architektur. Ein Mann mit einem Thermosbecher in der Hand, der zuerst nur einen kurzen Blick in den Andachtsraum geworfen hat, traut sich nun doch herein.

"So eine Kirche habe ich noch nie gesehen", sagt mir der Besucher, der Helmut Backes heißt und aus Ratingen stammt. Er zeigt auf die Wand hinter dem Altar. "Diese Gehweg-Platten als Dekoration, das ist sehr außergewöhnlich." Die Platten aus Kunststoff stehen auf kleinen Vorsprüngen und sind so angeordnet, dass die Zwischenräume ein Kreuz ergeben. "Der Altar gefällt mir, aber vor allem die Ruhe", flüstert er: Draußen die Hektik und sobald man reinkomme, sei es still. Er hat Recht. Das Tosen und Rauschen der Autobahn ist in der Kirche nur noch gedämpft zu hören.

"Dass man hier mal kurz zur Ruhe kommt, finde ich klasse", sagt Helmut Backes zum Abschied. Er ist auf dem Weg in den Kroatien-Urlaub, mehr als tausend Kilometer liegen noch vor ihm. In einer Autobahnkirche sei noch nie zuvor gewesen. Angekündigt wird das Gotteshaus bereits einige Kilometer vor der Ausfahrt: Auf den blauen Autobahn-Hinweisschildern ist das Symbol einer Kirche mit spitz zulaufendem Turm abgebildet. Das habe sein Interesse geweckt. 44 Autobahnkirchen gibt es insgesamt in Deutschland  – und nur in Deutschland. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Phänomen in anderen Ländern weitestgehend unbekannt.

Andachtsraums der Autobahnkirche Medenbach
Die Kunststoffplatten an der Altarrückwand stellen ein Kruzifix dar. 24 Menschen haben in der Kirche Platz. Einmal im Monat gibt es eine Andacht. In erster Linie soll das rund um die Uhr geöffnete Gotteshaus aber ohnehin ein Ort für die persönliche Einkehr sein.
© Laura Hindelang

Trotzdem – oder gerade deshalb – sind die besonderen Raststätten auch bei Ausländern beliebt. Das zeigen nicht nur Einträge im Anliegenbuch, die auf Spanisch, Polnisch oder Niederländisch verfasst sind, sondern auch ein mehrsprachiges Warnschild, das die Besucher bittet, keine mitgebrachten Kerzen anzuzünden. Neben "Attenzione" und "Attention" ist auch das hessische "Uffbasse" vertreten. Der Hinweis hängt direkt neben einer Nische in der Wand, in der die Kerzen aufgestellt werden. Zwei Frauen stehen davor und setzen zwei Teelichter in die Wand. Sie kommen aus Essen und haben bereits öfter hier angehalten, berichtet die Ältere von beiden. Andrea Buchholz ist ihr Name. "Wir sind auf dem Weg zu meinem Sohn nach Mannheim und haben gedacht, wir halten einmal kurz inne. Dass die Fahrt gut geht und für die Menschen, die wir lieb haben", verrät sie. Sie wolle die Gedanken sammeln, um danach in Ruhe weiterzufahren. "Dass es an der Autobahn so einen Ort der Stille gibt", schätzt sie sehr.  

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Den typischen Besucher einer Autobahnkirche gibt es nicht

Nach Angaben der Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen (Akademie VRK) ist es vor allem die Ruhe, die Anonymität und die Unverbindlichkeit, die die Besucher in die Gotteshäuser zieht. Die Akademie unterstützt und vernetzt die Autobahnkirchen. Mit einer Befragung wollte das Institut im Jahr 2007 den typischen Besucher einer Autobahnkirche charakterisieren. Die Studie kam zwar damals zu einem Ergebnis (überwiegend verheiratete Männer über 40 mit mittlerer bis hoher Bildung, die sonst wenig Bezug zur Kirche haben), heute betont die Akademie auf stern-Nachfrage allerdings, dass es den typischen Besucher nicht gebe, "da Autobahnkirchen von sehr unterschiedlichen Menschen angesteuert werden, vom LKW-Fahrer bis zu Urlaubsreisenden".

Brennende Kerzen in der Autobahnkirche Medenbach
Im Mauerwerk gibt es eine Nische für die Kerzen. "Gott behüte dich auf all deinen Wegen", steht auf den kleinen Teelichtern.
© Laura Hindelang

Ein weiterer Reisender, der an diesem Tag eine Rast in Medenbach einlegt, ist Klaus Hein aus Oberhausen. Er ist mit seiner Frau und dem Hund – die während seines Besuches im Vorhof warten – auf dem Weg nach Tirol. Er schaue sich immer gerne Kirchen an. Autobahnkirchen übersehe man leider meist, meint er. Hier sei er aber schon einmal gewesen. Sein Fazit: "Tolle Architektur, ganz tolle Atmosphäre, ganz ruhig." Autobahnkirchen gelten als Räume der Stille und des individuellen Gebetes, oft werden sie auch als "Tankstellen für die Seele" bezeichnet. Auch die Kirche in Medenbach beschreibt sich selbst als "ein Ort der Einkehr und des Gebets“. Die Gotteshäuser können laut der Akademie VRK aber auch eine Anlaufstelle sein für "Menschen, die gerade etwas Belastendes erlebt haben oder durchleben".

Besucher hinterlassen bewegende Bitte im Anliegenbuch

Davon zeugt das Anliegenbuch, eine Art Gästebuch für die Kirchgänger. In Medenbach liegt mittlerweile das 45. Exemplar seit Einweihung der Kirche im Jahr 2001 aus. Die Gemeinde hat es auf einem hölzernen Fensterbrett am Ende des Raumes gegenüber des Altars platziert. Die insgesamt Tausend Seiten sind voller Bitten, Gebete und Danksagungen. Viele wünschen sich Gesundheit für ihre Liebsten oder eine sichere Autofahrt. Andere bitten um Vergebung – oder um eine gute Note in der Bachelor-Arbeit.

Besucherin der Autobahnkirche Medenbach verewigt sich im Anliegenbuch
Im Anliegenbuch können Besucher persönliche Worte hinterlassen. Sehr oft zu lesen: "Danke für diesen schönen Ort der Ruhe".
© Laura Hindelang

Vor allem aber scheinen sich die Besucher Ballast von der Seele schreiben zu wollen. "Begleite meinen Bruder sanft hinüber", heißt es in einem Eintrag. Ein weiterer Besucher richtet sich an seine Schutzengel: "Danke, dass ihr mich heute beschützt habt, es war kurz vor knapp." Ein junger Mann klagt: "Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Platz auf der Erde nicht richtig ist. Ich bin erst 20 Jahre alt und habe schon jetzt keine Kraft mehr." Jetzt könnte ich doch wieder die Taschentücher gebrauchen.

Über mir fällt durch das schräge Glasdach viel Licht – und Hitze. Die Temperaturen sind noch heißer als draußen. Ich habe genug gerastet. Im Durchschnitt bleiben die Besucher ohnehin nicht länger als 15 Minuten. Bevor ich wieder ins Auto steige, hinterlasse ich im Anliegenbuch einen Satz für meinen verstorbenen Großvater. Als ich vier Jahre alt war, hatte er prophezeit, dass aus mir einer Reporterin werden würde. Ich nehme den Kulli in meine schweißnasse Hand und schreibe: "Ich weiß, du wärst stolz auf mich."