Ach, Mensch Unsere Milliarden haben Putins Armee fit gemacht für den Krieg in der Ukraine

Putin hält beide Daumen nach oben
stern-Chefredakteur Florian Gless schreibt hier jede zweite Woche über die Herausforderung, einfach Mensch zu sein
© picture alliance / Xinhua News Agency | Chen Jianli
"Wandel durch Annäherung" war 50 Jahre lang das Konzept politischer und wirtschaftlicher Beziehungen mit nicht demokratischen Staaten. Das ist mit Kriegsbeginn in der Ukraine nun vorbei.

Es beginnt mit der Doppelmoral. Sie ist die unerwünschte Nebenwirkung des "Wandels durch Annäherung", der vor 50 Jahren das Verhältnis zum Ostblock auf den Kopf stellte: Im Dialog können wir indirekt Einfluss nehmen. Wenn wir Handel treiben, dem Wohlstand hinter der Grenze auf die Sprünge helfen, werden die Menschen dort immer mehr wollen, mehr Konsum und vor allem mehr Freiheit.

Die Wende 1989 hat gezeigt, dass die Idee aufgegangen ist. Sie funktionierte aber nur, weil es Regierungschefs gab, die den Einsatz brutalster Staatsgewalt scheuten. Der Platz des Himmlischen Friedens hat gezeigt, was ansonsten passiert. Genauso wie es jüngst Lukaschenko zeigte und Putin sowieso.

Halten sich die Chinesen die Bäuche vor Lachen?

Die chinesische Führung hat unseren Versuch zu wandeln gern angenommen. Allerdings zu ihren Bedingungen. Sie hat verstanden, dass mehr Wohlstand eine gute Sache ist. Wie kein Zweiter hat sie begriffen, dass Freiheit nicht unbedingt das wichtigste Thema ist, wenn in der Garage der BMW steht und Hugo Boss im Schrank hängt. Wozu freie Wahlen und freie Meinungsäußerung, wenn es weder an Essen noch an Konsumgütern mangelt? Der chinesische Mittelstand scheint jedenfalls mehrheitlich ganz zufrieden zu sein.

Porträt stern-Chefredakteur Florian Gless 
stern-Chefredakteur Florian Gless schreibt hier jede zweite Woche über die Herausforderung, einfach Mensch zu sein
©  Carolin Windel/stern

Die Menschen leben in einer Überwachungsdiktatur, die dank modernster Digitaltechnik total ist. Und wenn die Freiheit mal aufflackert, wie in Hongkong, wird sie niedergeknüppelt. Der Westen schreckt auf, aber die wirtschaftliche Macht Pekings ist inzwischen zu groß, der chinesische Markt gigantisch. Er füttert unseren Wohlstand. Jede Kanzlerin und jeder Kanzler spricht bei Gipfelgesprächen gern die "Menschenrechtsfrage" an, und ich stelle mir die chinesischen Spitzenbeamten vor, wie sie sich im Nebenzimmer die Bäuche halten vor Lachen.

Auch Putin fand die Geschäfte mit dem Westen ausgesprochen attraktiv. Jedweden Wandel durch Annäherung wusste er zu verhindern, indem er seinen Staat wie eine Mafia-Organisation aufgebaut hat, wie die britische Journalistin Catherine Belton in ihrem Buch "Putins Netz" lesenswert beschreibt. Der Westen, insbesondere Deutschland, glaubte lange an die Verbesserung der russischen Verhältnisse. Die wachsende Abhängigkeit von russischer Energie wurde weggewischt im naiven Glauben, dass der Autokrat so böse nicht sei. Seit dem 24. Februar wissen wir es besser.

Ukraine-Krieg konfrontiert Westen mit Realpolitik 2022

Wandel durch Annäherung funktioniert eben nicht mehr. Polizeiknüppel und totale Überwachung: Wo die Freiheit nicht gewollt ist, hat sie heute keine Chance mehr. Das ist eine bittere Erkenntnis, aber eben auch: Realpolitik 2022.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Jahrzehntelang hat der Westen auf Dialog gesetzt. Er hat die Globalisierung erfunden, der weltweite Handel hat für viele enormen Wohlstand gebracht. Das war Annäherung. Aber der Wandel ging eher in Richtung Verschlechterung. Der befreite Konsum hat den Autokraten ihr böses Treiben noch erleichtert, denn die westlichen Marken sind das moderne Opium fürs Volk. Und nun stehen wir vor einem Trümmerhaufen: Es sind unsere Milliarden, mit denen Putin seine Armee fit gemacht hat für den Krieg in der Ukraine.

"Wo die Freiheit nicht gewollt ist, hat sie heute keine Chance mehr. Das ist eine bittere Erkenntnis, aber auch: Realpolitik 2022"

Einschränkungen oder gar das Ende wirtschaftlicher Beziehungen würden autokratischen Herrschern das Regieren erschweren: Was hätten sie ihrem Volk schon zu bieten? Vielleicht ist es eben gar nicht mehr die Freiheit, die die Menschen so sehnsüchtig wünschen, sondern vielmehr der BMW in der Garage? Höchstens China wäre wohl in der Lage, sich entsprechend selbst zu versorgen. In Russland werden die Sanktionen nun zeigen, was die Bevölkerung aushält.

Damit im Gegenzug wir unseren Wohlstand sichern, ersetzen wir jetzt Russland durch Katar. Und so endet es mit: der Doppelmoral.

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Erschienen in stern 13/22