Unser Wein, ihre Wut Deutsche Supermärkte locken mit günstigen Cuvées aus Südafrika – Arbeiter vor Ort beklagen Ausbeutung

  • von Ann Esswein
Bettie Fortuin auf einer Protestaktion vom Women on Farms Project vor der Matroosberg Farm in De Doorns
Gemeindesprecherin Bettie Fortuin demonstriert mit anderen Arbeiterinnen vor einer Traubenfarm in De Doorns
© Helena Lea Manhartsberger
Wein aus Südafrika kostet hierzulande oft nur wenige Euro – doch den wahren Preis bezahlen die Menschen vor Ort. Zu Besuch bei den Arbeiterinnen, die offenbar regelmäßig um ihre Rechte betrogen werden.

Lieferkettengesetz – das Projekt

Der stern und das freie Autoren- und Fotografenkollektiv Zeitenspiegel Reportagen widmen sich in loser Folge einem der wichtigsten neuen deutschen Wirtschaftsgesetze – dem im Januar 2023 in Kraft getretenen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Was bedeuten die neuen Regeln für deutsche Unternehmen? Was für die Menschen im globalen Süden? Und was für Kunden und Konsumenten? Dieses Projekt wird vom European Journalism Centre finanziert und von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt – die Artikel entstehen ohne redaktionellen Einfluss der Stiftung.

Die Farmarbeiterinnen haben sich vorbereitet. Mit Hüten gegen die Sonne, mit Trillerpfeifen und Plakaten stürmen sie auf den von Reben umsäumten Flachbau zu. Sie sind laut, sie sind wütend, und ihre Wut hat auch etwas zu tun mit Supermärkten, die zehn Flugstunden von hier in Deutschland Wein verkaufen. Mit den Lieferketten dieser Märkte. Damit, worauf ihre Importeure achten. Und worauf nicht.

Es sind vielleicht 50 Frauen, die an diesem Morgen im März auf die Traubenfarm bei der Kleinstadt De Doorns in Südafrika gekommen sind, um zu protestieren. Sie rütteln an dem mit Stacheldraht umwickelten Zaun, der den Betrieb schützt. "Diese Leute behandeln uns wie Tiere", brüllt die kleinste der Frauen und drängt sich nach vorn. Das Megafon in ihrer Hand knistert.

Bettie Fortuin, zusammengekniffene Augen, Spitzenrock und Turnschuhe, ist die Sprecherin ihrer Gemeinde. Seit sie 13 Jahre alt war, erntet die heute 60-Jährige Trauben für den Weltmarkt. Sie ist diejenige, deren Handy klingelt, wenn Arbeiter krank werden und die Farmbesitzer ihnen deshalb das Gehalt kürzen. Oder wenn die Arbeiter klagen, dass sie mal wieder keinen Lohn bekämen. So wie an diesem Freitag.

Eigentlich ist heute Zahltag in De Doorns, der 12.000-Einwohner-Gemeinde, in der die Traubenfarm liegt. Ein Tag, an dem Männer und Frauen in blauen Arbeitsoveralls ausgelassen von Lkw-Ladeflächen springen und sich lange Schlangen vor Geldautomaten und Läden bilden. Seit drei Wochen aber seien die Arbeiter nicht bezahlt worden, behaupten die Frauen, die jetzt am Zaun rütteln.

Kein Lohn, kein Trinkwasser, keine ordentlichen Verträge: Die Anschuldigungen der Arbeiter

"Komm heraus!", ruft Bettie Fortuin ins Megafon. Aber die Managerin kommt nicht, sie verständigt die Polizei. Als ein Beamter eingetroffen ist, baut Fortuin sich mit verschränkten Armen vor ihm auf: "Die Kinder dieser Frauen sind hungrig, sie brauchen etwas zu essen, sie müssen in die Schule, aber ihre Eltern haben kein Geld." Die Arbeiter hätten nicht einmal Zugang zu Trinkwasser. "Das ist ein Menschenrecht", sagt Fortuin.

Die Anschuldigungen lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Auf Anfrage des stern weist die Managerin sie zurück. Man habe den vollen Lohn gezahlt. Es habe nie länger als drei Wochen gedauert, bis die Zahlungen bei den Mitarbeitern eingegangen seien. Sollte es doch Fälle gegeben haben, bei denen es länger gedauert habe, habe das daran gelegen, dass Arbeiter ihr Konto gewechselt hätten.

Die Polizei ist nicht zum ersten Mal auf einer der Trauben- und Weinfarmen von De Doorns. Meist wird sie von Arbeitern gerufen, die über Verstöße gegen das Recht klagen. Und die später sagen, dass sich trotzdem nichts geändert habe. Auch diesmal wird der Polizist Bettie Fortuin in den folgenden Tagen immer wieder am Telefon vertrösten. Ihm seien die Hände gebunden.

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Bettie Fortuin auf der Polizeiwache
Bettie Fortuin auf der Polizeiwache. Sie und ihre Kollegen beschweren sich häufig über ihre Arbeitsbedingungen. Aber, sagt sie, das ändere nichts
© Helena Lea Manhartsberger

Glaubt man Fortuin, haben die wenigsten Arbeiterinnen einen ordentlichen Vertrag, den sie vor einem Gericht in Südafrika einklagen könnten. Die Frauen, die an diesem Morgen protestieren, erwarten nicht mehr viel von den südafrikanischen Behörden.

Aber könnte Hilfe nicht aus den Ländern kommen, in denen ihre Trauben gegessen und die daraus gekelterten Weine getrunken werden? Könnten nicht Importeure oder Supermärkte in Europa etwas für sie tun?

In Deutschland müssten sie das eigentlich. Seit Anfang des Jahres ist ein Gesetz in Kraft, das genau das vorsieht. Es trägt den sperrigen Namen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und soll weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus Gutes bewirken. Hierzulande ansässige Unternehmen mit mehr als 3000 Mitarbeitern haben danach zu belegen, dass sie die Lieferketten ihrer Produkte kontrollieren. Supermärkte etwa müssen wissen, wo und unter welchen Bedingungen die Würste oder Weine in ihrem Sortiment hergestellt werden, inklusive der einzelnen Rohstoffe. Sie müssen herausfinden, wo das Risiko besteht, dass bestimmte Standards, etwa im Arbeitsrecht, nicht eingehalten werden. Und sie müssen Beschwerdemechanismen installieren und bei Hinweisen auf Probleme die gesamte Lieferkette durchleuchten. Erfüllen Unternehmen ihre Pflichten nicht, kann das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle sie sanktionieren. Das jedenfalls ist die Theorie – die Praxis ist komplizierter.

Kritisieren sie die Arbeitsbedingungen, riskieren sie nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Unterkunft

Auf der Farm in De Doorns hat sich der Protest inzwischen aufgelöst, die Frauen steigen in einen Kleinbus. Entlang der Straßen ziehen sich die Reben, in sie eingebettet liegen Weingüter im kapholländischen Stil, viele seit Generationen in Familienbesitz. Bettie Fortuin lebt nicht weit entfernt von dieser idyllischen Route – und doch in einer anderen Welt.

Auf einem Hügel reihen sich Wellblechhütten entlang staubiger Straßen. Viele Arbeiter, unter ihnen auch solche, die von den Weingütern vertrieben wurden, haben sich hier aus Brettern und Planen Unterkünfte gebaut. Müll weht aus dem vertrockneten Flussbett. Fließendes Wasser haben die wenigsten.

Ein Lkw vollgepackt mit Farmarbeitern
Freitags werden die Arbeiter per Lkw in den Ort gefahren. Dort ziehen sie ihren Lohn aus den Bankautomaten – wenn er denn gezahlt wurde
© Helena Lea Manhartsberger

Die Nachbarn nennen Bettie Fortuin "Mama", weil sie eine ist, die sich kümmert. Ihr Wohnzimmer hat etwas von der Zentrale einer Gewerkschaft, in der alle Beschwerden einlaufen. Die Trillerpfeife noch um den Hals, verteilt Fortuin Gabeln für das Mittagessen. Die Demonstrantinnen sinken erschöpft in Plastikstühle.

Südafrikas Weinindustrie hat eine düsterere Vergangenheit. Während der Apartheid wurden Arbeiter teils mit Schnaps und Wein bezahlt, das machte viele zu Alkoholikern. Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Verpflegung, bei alldem waren sie von weißen Farmbesitzern abhängig. Inzwischen gibt es auch Weingüter, die Arbeiter am Gewinn beteiligen. Es gibt schwarze Besitzer, schwarze Kellermeister, schwarze Sommeliers. Doch die Mehrheit der Weingüter gehört wie einst Weißen. Und bei einigen sind die Arbeitsbedingungen prekär. Die Frauen, die sich an diesem Nachmittag in Fortuins Wohnzimmer versammelt haben, berichten von Diskriminierung und Drohungen, von mangelnder Gesundheitsversorgung und fehlenden Toiletten.

Arbeiterinnen fühlen sich noch häufiger ausgeliefert als ihre männlichen Kollegen. Anders als diese werden sie meist nur als Saisonkräfte eingestellt. Und wenn sie gemeinsam mit ihren Männern eine Unterkunft auf dem Farmgelände beziehen dürfen, läuft der Mietvertrag auf den Mann – eine Frau, die sich trennt, verliert auch ihr Dach über dem Kopf. Das sei der Nährboden für geschlechterspezifische Gewalt, sagt Fortuins Schwester, Magrieta Prins.

Arbeiter ernten Trauben auf den Farmen von De Doorns
Die Wein- und Traubenfarmen von De Doorns liegen eingebettet zwischen Hügeln und Bergen 
© Helena Lea Manhartsberger

Die gängige Verquickung von Arbeit und Bleibe macht aber auch Männer abhängig, die Gewerkschaften kennen das Problem. Viele hätten Angst, sich öffentlich zu beschweren, sagt Ryno Filander, er ist Vorsitzender der Agrar-Gewerkschaft CSAAWU. Wenn sie die Arbeitsbedingungen kritisierten, riskierten sie nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Unterkunft. Oft müsse er die Arbeiter heimlich treffen. Für manche bedeute der Eintritt in eine Gewerkschaft die Kündigung.

"Die Arbeiter trinken das Wasser aus denselben Brunnen wie die Tiere"

Filander hat sich an einem Regentag von dem Weingut, auf dem er arbeitet, über überflutete Straßen nach Kapstadt gekämpft. Drei Stunden Fahrt trennen die beiden Welten, zwischen denen sich Filander bewegt. Dort Hütten aus Wellblech und einfache Häuser – hier das Hotel an einer Strandpromenade mit einem künstlichen Kamin im Foyer. Viele der Arbeiter, die der Gewerkschafter auf den Feldern trifft, haben noch nie ein solches Hotel von innen gesehen. An diesem Tag trifft er sich mit Gewerkschaftsvertretern aus aller Welt. Auch mit deutschen Einzelhandelskonzernen saß er schon am Tisch. "Wir hier fokussieren uns auf eure Standards" – das sagt Filander jetzt, das hat er auch den Einkäufern gesagt.

Ryno Filander schaut aus dem Fenster
Ryno Filander, Gewerkschaftsvorsitzender
© Helena Lea Manhartsberger

Er glaubt: Wenn die Konsumenten in Deutschland Wein aus Südafrika aufs Einkaufsband legen, haben sie ein Bild im Kopf von einem Land in der Sonne, einer halbwegs stabilen Volkswirtschaft, fairen Arbeitsbedingungen. "Es sieht aber komplett anders aus, wenn du dorthin gehst, wo die Trauben wachsen", sagt Filander. "Die Arbeiter trinken das Wasser aus denselben Brunnen wie die Tiere."

Eigentlich müssten sich deutsche Unternehmen nach dem Lieferkettengesetz die gesamte Kette bis hin zu den Farmen ansehen. Aber wie solle das gehen?, fragt sich Filander.

Für Verbraucher ist es noch ungleich schwerer zu beurteilen, welche Arbeitsbedingungen sie mit ihren Einkäufen unterstützen. Wer in Deutschland im Supermarkt steht, der kann oft kaum erahnen, woher die Trauben für einen Wein stammen. Rund 80 Prozent der Importware werden kostengünstig in großen Tanks verschifft und erst in Deutschland abgefüllt, heißt es in einem Bericht, den die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit gewerkschaftlichen Organisationen 2020 herausgebracht hat.

Wer versucht, den Weg der Trauben aus De Doorns zu verfolgen, der stößt auf Unternehmen, die sich nicht äußern möchten. Auf eine Lieferkette, die sich nur schematisch durch die Aussagen von Experten, Arbeitern und Aktivisten rekonstruieren lässt.

Viele Weintrauben aus dem Tal von De Doorns werden danach von Lastern abgeholt und zu einer Kellerei am Ortseingang gebracht: De Doorns Cellar. Hier würden die Trauben grob verarbeitet, erklärt die Arbeitsrechtsaktivistin Carmen Louw. Das Unternehmen liefert nach eigenen Angaben vor allem Tankwein an "bekannte Wein- und Spirituosenhersteller". Einer davon ist die südafrikanische Robertson Winery, die auch Karton- und Flaschenweine für Kaufland produziert. Dänische Supermärkte hatten über Robertson Winery vermarktete Weine 2016 aus ihrem Sortiment genommen, nachdem dem Unternehmen grobe Arbeitsrechtsverstöße, gar sklavereiähnliche Zustände, vorgeworfen worden waren.

Das Unternehmen scheint auf zwei Erlösquellen zu setzen: Einerseits vertreibt es Qualitätsweine mit dem Logo des Unternehmens. Andererseits gehört zur Robertson Winery auch ein Tochterunternehmen, das nach eigenen Angaben rund 20 Millionen Liter Tankwein pro Jahr für den Export produziert. Massenware, auf der kein Name steht.

Deutsche Supermärkte müssen dafür sorgen, dass die Arbeiter in Südafrika wissen, bei wem sie sich beschweren können

Der Käufer in Deutschland klebe sein eigenes Etikett auf den abgefüllten Tankwein, so beschreibt es ein Weingutbesitzer im 40 Kilometer entfernten Ort Rawsonville. Auch dieser Winzer weiß nicht, was aus seiner Ware wird. Denn in Deutschland werden die Weine verschnitten. Bei vielen Produkten beschränkt sich die Herkunftsangabe auf: "Wine from the Cape Region".

Der stern hat die zehn größten Supermarkt- und Discounterketten in Deutschland gefragt, woher der südafrikanische Wein in ihrem Sortiment kommt. Edeka versicherte, dass die Rückverfolgbarkeit bis zum Weingut gewährleistet werden könne. Lieferanten wollte keine der Supermarktketten nennen. "Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir zu Details unserer Lieferantenbeziehungen sowie konkreten Absätzen grundsätzlich keine Aussage treffen", schreibt eine Pressesprecherin von Kaufland. Und auch zu der Frage, wie sich ihre Einkaufspraxis seit der Einführung des Lieferkettengesetzes verändert hat, äußern sich die Unternehmen nur vage.

"Der Aufwand für die Supermärkte ist immens groß", sagt Hartmut Henninger. Die Kanzlei Graf von Westphalen, für die der Rechtsanwalt arbeitet, berät Unternehmen zu den Anforderungen, die das neue Gesetz seit Beginn des Jahres stellt.

Werbung für Weinverkostungen vor traumhafter Kulisse
Der schöne Schein der Winelands: Werbung für Weinverkostungen vor traumhafter Kulisse
© Helena Lea Manhartsberger

Supermarktketten in Deutschland verstießen zwar nicht automatisch gegen das Gesetz, wenn auf der Weinfarm in Südafrika Menschenrechte verletzt würden, erklärt Henninger, sie müssten den Paragrafen zufolge auch nicht ihre komplette Lieferkette offenlegen. Sie seien aber verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Arbeiter in Südafrika wüssten, wie und bei wem sie sich in Deutschland beschweren könnten. Und falls Menschenrechtsverletzungen dokumentiert würden, zum Beispiel durch Journalisten, müssten sie Druck auf ihre Lieferanten ausüben.

Vom Juni 2024 an müssen die Firmen öffentlich zugängliche Berichte über all das beim zuständigen Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle abliefern. "Das bietet Anlass, Nachfragen zu stellen", sagt Henninger. "Haben die Unternehmen Beschwerdemechanismen eingerichtet? Sind die erreichbar?" Wie aber eine effektive Kontrolle stattfinden könnte, weiß Henninger nicht zu sagen: "Mir fehlt noch ein bisschen die Fantasie, wie die Behörde das machen soll."

Bettie Fortuin und ihre Kolleginnen würden profitieren, wenn in der Praxis etwas würde aus dem neuen Gesetz. Wenn es wirklich gelänge, dass Arbeiter überall auf der Welt wüssten, welche Firmen in Deutschland ihre Produkte vertreiben. Wenn sie wüssten, wo sie ihre Rechte einklagen können, wenn die missachtet werden. Bisher scheitern viel zu viele daran, dass sie viel zu wenig wissen. "Bei wem", fragt Bettie Fortuin, "sollen wir uns denn beschweren?"

Erschienen in stern 29/2023