Corona-Lagebild in Deutschland Die vier klaren Ansagen von RKI-Präsident Wieler

Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI)
Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI)
© Christian MANG / AFP
Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), ist nicht gerade bekannt für eine Basta-Rhetorik. Nun hat der Chefanalyst der Coronakrise in Deutschland ungewöhnlich deutliche Worte gewählt.

Und dann sagt Lothar Wieler einen Satz, der für den sonst so besonnenen Chefanalysten der Krise schon fast anklagend daherkommt: "Es ist nicht hilfreich, wenn auch in der Öffentlichkeit immer nur auf einen Faktor bezogen wird".

Es ist Dienstag, es ist wieder Zeit für das regelmäßige Corona-Update zum Lagebild in Deutschland durch den Präsidenten des Robert Koch-Instituts (RKI). Der Ablauf ist nach acht Wochen routiniert: Vorstellung der aktuellen Zahlen, anschließend ein tiefergehender Blick, zum Schluss die Fragen der Journalisten. So weit, so üblich – auch an diesem Morgen. Aber eines ist anders, um nicht zu sagen: neu. Lothar Wieler muss da mal etwas klar stellen, nicht nur ein Mal.

Das ist durchaus bemerkenswert. Denn, so hat es auch der RKI-Präsident – der nicht gerade für eine Basta-Rhetorik bekannt ist – immer wieder erklärt: Die Pandemie entwickelt sich, damit auch ihre Bewertung und seine Antworten auf immer wiederkehrende Fragen. Bei vier Aspekten hat sich Wieler aber äußerst deutlich positioniert, zum Teil ungewöhnlich scharfe Worte gewählt. 

1. Appell: Faktor R nicht überbewerten

"Es ist nicht hilfreich, wenn auch in der Öffentlichkeit immer nur auf einen Faktor bezogen wird", sagt Wieler zur Berichterstattung über die sogenannte Reproduktionszahl. Diese ist leicht angestiegen, laut RKI werde sie derzeit (Stand 27.4.) auf 1 geschätzt – ein Infizierter steckt damit im Mittel einen weiteren Menschen an.

Der Wert spielt in der öffentlichen Debatte eine große Rolle, wohl nicht zuletzt seit dem beachtlichen Rechenbeispiel der Bundeskanzlerin. Mit Recht, meint Wieler – mahnt aber: "Sie sollten sich nicht ausschließlich auf den Wert R konzentrieren". Zwar liefere der Faktor wichtige Erkenntnisse über die Dynamik der Pandemie, müsse aber immer im "Zusammenspiel" mit anderen wichtigen Zahlen betrachtet werden – etwa mit den Fallzahlen pro Tag und den Testkapazitäten in Deutschland. Darüber hinaus falle die Zahl regional unterschiedlich aus.

"Ich will nicht, dass sich die Debatte zu sehr auf R konzentriert", so Wieler. Es sei eine wichtige Messzahl, aber schließlich eine von vielen. Ziel müsse weiter sein, auf unter 1,0 zu drücken, um mehr "Spielraum" im Kampf gegen die Pandemie zu haben. Doch: "Es wird nie so sein, dass nur ein Faktor dafür sorgt, dass völlig andere Maßnahmen durchgeführt werden."

2. Appell: Schutzmasken richtig tragen

Lange hatte das RKI nur Menschen mit einer Atemwegserkrankung geraten, in der Öffentlichkeit einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Mittlerweile hat die Behörde ihre Meinung geändert, und so bekräftigt auch Wieler zum wiederholten Male: Der Mund-Nase-Schutz sei "für die Menschen selbst kein Schutz", schütze aber Dritte bis zu einem gewissen Punkt. Doch damit dieser "geringe Mehrwert" der Masken zum Tragen komme, müssten diese, nun ja, richtig getragen werden. Zu oft habe der RKI-Präsident beobachtet, dass der Mund-Nasen-Schutz falsch angewendet würde. Etwa, weil dieser nicht über Mund und Nase getragen werde. 

Es gibt immer noch Unsicherheit darüber, wie man und wann man Masken trägt", so Wieler. Der RKI-Präsident empfahl "ausdrücklich", sich etwa beim Bundesgesundheitsministerium zu informieren. Doch seine Warnung bleibt: "Wir haben immer gesagt, dass man sich mit den Masken nicht in Sicherheit wiegen darf." 

3. Appell: Weiter an Regeln halten

Für Wieler hingegen in Stein gemeißelt: "Das Wichtigste ist: Mindestens 1,5 Meter Abstand halten und in die Armbeuge husten und niesen. Das sind die Grundlagen." Nur so könne man an dem "Erfolg, den wir uns alle erarbeitet haben" anknüpfen. Deutschland habe das Virus anders als andere Länder bisher sehr erfolgreich in Schach halten können. "Wir wollen nicht, dass die Fallzahlen wieder zunehmen." Das gelte gerade vor dem Hintergrund der ersten Lockerungen. 

Diese Empfehlung oder Mahnung durch das RKI, sich an die Hygienemaßnahmen zu halten, habe sich auch nach acht Wochen der Lagebild-Pressekonferenzen nicht verändert. Trotz oder gerade aufgrund der abnehmenden Fallzahlen lautet der Appell des Instituts: "Wir wollen diesen Erfolg verteidigen, und das schaffen wir auch, wenn wir uns weiter disziplinieren und an die Regeln halten." 

4. Appell: Herdenimmunität ist keine Lösung

Konsequenter Lockdown, vereinzelt Lockerungen oder schwedischer Sonderweg? Die Suche nach einer erfolgsversprechenden Strategie im Kampf gegen die Pandemie sorgt seit Wochen für Diskussionen. Einer umstrittenen Losung hat Wieler eine entschiedene Absage erteilt: "Wir haben da eine klare Position: Es ist für uns nicht vorstellbar, eine kontrollierte Herdenimmunität hervorzurufen." 

Was ist gemeint? Herdenimmunität heißt, dass die Verbreitung des Virus gestoppt wird – weil immer mehr Menschen dagegen immun sind, sei es, weil sie die Krankheit überwunden haben oder geimpft wurden. 

Das RKI spricht sich klar gegen eine gezielte Durchseuchung der Bevölkerung aus. "Das Virus ist schwer zu kontrollieren", erklärt Wieler. Dass Experiment könnte tödlich enden, formuliert der RKI-Präsident durch die Blume: "Man muss darüber denken, wie viele Menschenleben man im Kauf nehmen möchte, um eine mögliche Herdenimmunität zu erreichen." Ohne ein wirksames Medikament oder einen Impfstoff sei die Debatte für Wieler "fachlich nicht nachvollziehbar", mitunter "gefährlich" und "naiv". 

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