Von Europas alten Geißeln ist allein sie geblieben. Ausgerottet sind die Pocken. Die Pest hat sich in entlegene Steppen zurückgezogen und hätte gegen Antibiotika keine Chance. Hygiene bezwang die Cholera. Aber die Influenza ist noch da, ihr Erreger vital wie je.
Ausgelöst von einem wandlungsfähigen Virus, brachte die gemeine Grippe die schwersten Epidemien der Geschichte. Im 20. Jahrhundert setzte sie dreimal dazu an, die gesamte Menschheit zu befallen: 1918, 1957 und 1968. Dabei veränderte das Virus Influenza A - jedes Mal der Auslöser - seine Aggressivität (die "Virulenz") und die Zeit, die es zur Ausbreitung brauchte. Professor John Oxford aus London, einer der führenden Spezialisten, sagt: "Es gab einen Rückgang der Virulenz, resultierend in 50, dann fünf und schließlich 0,5 Millionen Todesfällen. Andererseits hat sich die Ausbreitungszeit von eineinhalb Jahren im Jahr 1918 auf ein Jahr in 1957 und 1968 auf sechs Monate verkürzt."
Ob Oxford zu Recht von 50 Millionen Toten spricht, ob es 1918 "nur" 20 Millionen waren oder aber 40, das weiß niemand. Klar ist, dass der globale Seuchenzug (eine Pandemie, wie Mediziner es nennen) mehr Menschen tötete als der Erste Weltkrieg. Und dass die Medizin keine wirksamen Waffen besaß gegen einen Mikroorganismus, der erst 1933 charakterisiert werden konnte. Man verordnete Aspirin und Bettruhe. Und hoffte, dass die Lungen des Kranken nicht voll Wasser laufen, er nicht am Ende qualvoll ersticken würde.
In der Influenza-Saison 2003/2004, die in diesen Tagen beginnt - Großbritannien etwa meldet hohe Virusaktivität, mehrere Kleinkinder sind an der Grippe gestorben - ist das anders. Neben zuverlässigen Impfstoffen stehen mehrere Medikamente zur Verfügung, die den Erreger hemmen können. Die Mittel wären sogar geeignet, den mörderischen Virusstamm von 1918 zu bezwingen. Jetzt, 85 Jahre nach seinem Wüten, werden seine Geheimnisse gelüftet. Forscher erkennen, was ihn zum Schlimmsten seiner Art machte. Zurzeit schreiben sie am letzten Kapitel eines realen Wissenschaftskrimis, zu dessen Protagonisten neben dem Londoner Oxford die Washingtoner Armee-Pathologen Ann Reid und Jeffery Taubenberger zählen. Sie haben die Toten befragt.
Gefrorene Leichen
Auf Spitzbergen gruben Forscher nach den im Permafrost gefrorenen Leichen norwegischer Arbeiter (stern Nr. 52/1997), um Gewebeproben in Oxfords Labor zu schaffen. Reid und Taubenberger fahndeten in den pathologischen Sammlungen der US-Armee. Zuletzt kamen Präparate von Grippe-Toten aus Alaska und aus London hinzu. Es galt, das Erbgut des Virus von 1918 zu bergen.
In einem normalen Jahr sterben in Deutschland 5000 bis 8000 Menschen an Influenza. Während in der vorigen Saison SARS für Aufregung sorgte, tat die Virus-Variante Influenza-A-H3N2 hierzulande ihr übles Werk fast unbeachtet. Dabei tötete sie diesmal bis zu 16 000 Bundesbürger, erklärt Dr. Andrea Grüber von der Marburger "Arbeitsgemeinschaft Influenza", die die Aktivität des Erregers überwacht.
Zu den wichtigsten Genen des Grippevirus gehören jene, die den Bauplan zweier Eiweißkörper enthalten, die auf seiner Außenhülle sitzen: das Gen für das Protein Hämagglutinin (HA) und das Gen für das Protein Neuraminidase (NA). Mit dem Hämagglutinin heftet sich der Erreger an menschlichen Zellen an, um in sie einzudringen. Neuraminidase braucht er, um nach seiner Vermehrung die Zelle verlassen zu können. Seine Eiweiße sind für das Virus ein Risiko. Sie können von der menschlichen Abwehr erkannt werden. Gäbe es die Proteine in nur je einer Form, könnte eine Grippe eine lebenslange Immunität hinterlassen, wie es bei vielen Viruskrankheiten auch geschieht. Doch finden sich in freier Wildbahn - die Quelle aller Grippeepidemien sind Vögel - neun Neuraminidase- (N1 bis N9) und 15 Hämagglutinin-Varianten (H1 bis H15). H1, H2 und H3 sowie N1 und N2 kennzeichnen jene Typen, die dem Menschen bisher gefährlich wurden. Außerdem hat das Virus die Schlampigkeit zur Tugend gemacht: So ungenau lässt es sein Erbgut von seinem Wirt kopieren, dass sich ständig Fehler einstellen, kleine Wandlungen, die das Immunsystem blenden können.
Was den Killer von 1918 angeht, wissen die Experten jetzt: Es war ein Virus des Typs H1N1. In zwei Wellen umrundete es den Globus, begünstigt vom enormen Menschenverschub des Krieges, von schlechter Ernährungslage und vom Klima. Im Frühjahr 1918 und wieder vom Herbst an bis weit ins Jahr 1919. In einer eben veröffentlichten gemeinsamen Arbeit sind Oxford, Reid und Taubenberger nun zu einer entscheidenden Entdeckung gekommen: Als die Epidemie-Lawine erst einmal ins Rollen gekommen war, wurde das Virus konservativ. Die entscheidenden Erreger-Gene aus den Militär-Sammlungen, aus Alaska und aus England gleichen einander zu rund 99 Prozent.
Das ist eine gute Nachricht. Sie besagt: Die medizinischen Strategien, die der Menschheit heute im Kampf gegen die gemeine Grippe zur Verfügung stehen, wären auch gegen das mörderische Virus von 1918 erfolgversprechend gewesen. Die Forscher: "Unsere Ergebnisse zeigen, dass Anti-Virus-Medikamente und Impfstoffe in der entscheidenden und oft so tödlichen ersten Welle einer Pandemie einheitlich wirksam wären."
Grippe-Archäologe Taubenberger warnt seit Jahren vor einem neuen Seuchenzug. Düster prophezeite er: "Pandemien treten mit überraschender Regelmäßigkeit auf, alle 20 bis 30 Jahre." Die Wahrscheinlichkeit, dass es bald wieder zu einer kommt, bezifferte er mit "100 Prozent". In globalem Maßstab überwacht deshalb die Weltgesundheitsorganisation die Aktivität des Influenza-A-Virus. Jedes Jahr muss ein passender Impfstoff gegen den chamäleonhaften Mikroorganismus gefunden und in einem monatelangen Produktionsprozess bereitet werden. Zurzeit sind, so die Marburger Expertin Grüber, Risikogruppen aufgerufen, sich immunisieren zu lassen: jeder über 60, medizinisches und Pflegepersonal, chronisch Kranke, Kinder inbegriffen (beispielsweise Asthmatiker). Zusätzlich ist die Impfung für alle potenziellen "Multiplikatoren" empfehlenswert, für jeden also, der sehr viele Kontakte mit Menschen hat, ob Verkäuferin oder Busfahrer.
Gefägnis für den Grippevirus
Obwohl es schwierig ist, Virusmittel zu finden, stehen gegen Influenza gleich mehrere Arzneien zur Verfügung. Neben den älteren, mit stärkeren Nebenwirkungen behafteten Substanzen Rimantadin und Amantadin sind dies die Neuraminidase-Hemmer. Sie stören die Funktion dieses Virus-Proteins. Zwar kann sich der Erreger dann noch in menschlichen Zellen vermehren. Doch er kann sie nicht mehr verlassen, weil er in ihrer Außenhülle kleben bleibt. Die Ausbreitung im Körper ist gestoppt. Relenza (Wirkstoff: Zanamivir), das aus einem Zerstäuber eingeatmet wird, und Tamiflu (Wirkstoff: Oseltamivir), in Pillenform, sind die in Deutschland erhältlichen NA-Hemmer. Im Frühstadium einer Infektion angewendet, können sie deren Schwere drastisch reduzieren.
Einen ultimativen Wirksamkeitstest haben beide Mittel vergangenes Jahr bestanden: Eine New Yorker Forschergruppe um Professor Christopher Basler baute Influenza-Viren mit den 1918er-Genen aus Taubenbergers Bestand nach. Aus der Sicht einer menschlichen Zelle glichen die Kunstprodukte den Pandemie-Viren von einst. Getestet wurde ihre Angreifbarkeit an infizierten Mäusen im Hochsicherheitslabor. Die Wissenschaftler bestätigten, was alle geahnt hatten: "Die Virulenz des Virus ist erstaunlich." Doch: Sämtliche gebräuchlichen Antivirusmittel, auch die neuen NA-Hemmer, sind wirksam. Ohne sie brachte das Virus die Nager um. Wurden sie behandelt, überlebten sie.
Die reproduzierte Geissel von 1918 erweist sich mithin als fürchterlich normal. Neue Therapie-Ideen, erläutert Dr. Brunhilde Schweiger, die Leiterin des Nationalen Influenza-Referenzzentrums am Robert-Koch-Institut, habe die Virus-Archäologie aber bislang nicht gebracht - wenngleich die beteiligten Wissenschaftler hohen Respekt für ihren virtuosen Umgang mit den modernen Mitteln der Genanalyse verdienten: "Dass es möglich sein würde, aus dem über acht Jahrzehnte alten Material so wesentliche Teile des Virus zu rekonstruieren, durfte stark bezweifelt werden", sagt die Spezialistin. Einige Besonderheiten der Pandemie des Jahres 1918, gibt sie zu bedenken, könnten ihre Erklärung jedoch mitnichten innerhalb des Virus selbst, sondern in äußeren Umständen finden - so zum Beispiel die viel beachtete Tatsache, dass der damalige Ausbruch junge Erwachsene besonders hart traf. "Das kann daran gelegen haben, dass ältere Menschen mit einem H1N1-Virus infiziert wurden, bevor die nächste Generation geboren wurde", erklärt Schweiger, "die Älteren haben dann womöglich eine Teilimmunität gegen das Pandemie-Virus besessen."
Eines bleibt gewiss: Das Virus Influenza A ist auch unser Zeitgenosse, es mutiert vor sich hin und ist immer für böse Überraschungen gut. Für den Fall des Falles stimmen Bund und Länder derzeit den Entwurf eines Grippe-Pandemie-Plans ab. Wie viel Sicherheit er bringen kann, hängt nicht zuletzt davon ab, wie groß die Mittel sein werden, die die Bundesregierung für den Tag X bereitzustellen gewillt ist.