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Das Problem mit der Kita-Notbetreuung "Sind meine Kinder hier etwa nicht erwünscht?!"

Kindertagesstätten bleiben in Nordrhein-Westfalen trotz Lockdown geöffnet. Dennoch wird an die Eltern appelliert, Kinder Zuhause zu betreuen. Eine ziemlich offene Regel, die für Konflikte sorgt.

"Bis zum 11. Januar wurden meistens nur vier Kinder in meiner Gruppe abgegeben. Seit dem 11. Januar sind es acht. Das kann ich nicht verstehen", sagt Michel (Name von der Redaktion geändert), 24, Erzieher in einer Kindertagesstätte in Witten.

In Nordrhein-Westfalen steht seit dem 11. Januar folgende "Regel" an der Tagesordnung: "Kitas bleiben geöffnet, trotzdem gilt der dringende Appell, dass Eltern ihre Kinder selber betreuen." Wenn Kinder zu Hause betreut werden, können Kinderkrankentage in Anspruch genommen werden. Die Gründe, wieso Eltern ihr Kind in die Betreuung schicken, werden nicht geprüft. Die Basis ist Vertrauen. Kann das funktionieren?

"Es gibt Eltern, die das System teilweise ausnutzen"

Einige Eltern kritisieren, dass die Entscheidung über die Inanspruchnahme der Betreuung an die Eltern und Einrichtungen gegeben wurde, erklärt der Landeselternbeirat der Kindertageseinrichtungen in NRW (LEB) auf Nachfrage des stern. Es komme daher teilweise zu Konflikten vor Ort, "wenn unterschiedliche Sichtweisen zur Notwendigkeit der Betreuung aufeinandertreffen." 

Das bestätigt auch Michel: "Es gibt Eltern, die das System teilweise ausnutzen oder uns ein schlechtes Gewissen machen und fragen, ob ihre Kinder bei uns etwa nicht erwünscht sind." Häufig komme das zwar nicht vor, die Angst, dass es jeden Tag mehr Kinder werden, hat Michel trotzdem. Denn: "Uns sind die Hände gebunden, wir dürfen Kinder nicht nach Hause schicken, obwohl wir wissen, dass mindestens ein Elternteil zuhause ist und nicht arbeiten muss." Es werden "zu viele Ausnahmen" gemacht, erklärt der Erzieher weiter, "wir brauchen klare Regeln von oben."

Das sieht sein Kollege Thomas (Name von der Redaktion geändert) genauso. "Die Regeln hier in NRW sind doch Wischi-Waschi", sagt der 50-Jährige im Gespräch mit dem stern. "Ich weiß, dass ich Eltern nicht verbieten darf, ihre Kinder zu uns zu bringen. Aber ich darf betteln. Und das habe ich auch gemacht." Manchmal sogar mit Erfolg. Nervenaufreibend ist das trotzdem. "Mein Wunsch wäre ein Lockdown wie im März: Einmal alles für zwei Wochen dicht, mit klaren Regeln und einem klaren Ergebnis", sagt Thomas.

Kitas im Lockdown: Welche Regeln sind nötig?

Laut des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen wurden in der vergangenen Woche knapp 35 Prozent der Kinder in Tageseinrichtungen gebracht, außerdem werden die Elternbeiträge für den Monat Januar ausgesetzt und der Betreuungsumfang in Kindertageseinrichtungen für jedes Kind um zehn Stunden pro Woche eingeschränkt. Eine strikte Gruppentrennungen in der Betreuung sorgt zudem für "eine wichtige Maßnahme zur Verringerung von Infektionsketten." "Damit wollen wir einen Beitrag leisten, dass Eltern dem Appell auch wirklich nachkommen", sagt ein Sprecher des Ministeriums dem stern. Doch reicht das wirklich aus?

"Es gab zum Beginn des eingeschränkten Regelbetriebes in der letzten Woche einzelne Rückmeldungen, dass Betreuungseinrichtungen Eltern die Betreuung der Kinder verweigern wollten. Hier wurde z.B. fehlende Berufstätigkeit, Elternzeit, Homeoffice oder ähnliches angeführt", so der Landeselternbeirat. Das könnte durch "klarere Regelungen vonseiten des Familienministeriums" geändert werden, findet die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW NRW).

Im Vergleich zu vielen anderen Kindertagesstätten in NRW halten sich in der Einrichtung von Michel und Thomas die meisten Eltern an die Aufforderung, ihre Kinder Zuhause zu betreuen. Das ist allerdings nicht überall so. "Es herrscht vielerorts Chaos und Verunsicherung in den Kitas in NRW. Der Appell an die Eltern von Minister Dr. Stamp hat in vielen Einrichtungen nicht zum gewünschten Erfolg geführt, dass viele Kinder zuhause betreut werden. Stattdessen sind viele Kitas voll und an einen adäquaten Infektionsschutz, sowohl unter den Kindern als natürlich auch gegenüber den Erzieher*innen, ist nicht zu denken", so eine Sprecherin der GEW NRW auf Nachfrage des stern. "Uns wird von Konflikten zwischen Eltern und Erzieher*innen und Leitungen berichtet, wenn die Einrichtungen versuchen, Regelungen für den Besuch der Kinder in der Kita aufzustellen."

Emotionale und psychische Belastungen

Konflikte, die Spuren hinterlassen. "Der aktuelle Rechtfertigungsdruck gegenüber den Einrichtungen, den Arbeitgebern und der Öffentlichkeit, führt in den Familien zunehmend zu einer emotionalen und psychischen Belastungen", merkt der Landeselternbeirat an. Sie fordern: "Eltern sollen eigenverantwortlich über die Inanspruchnahme der Betreuung entscheiden. Das Fachpersonal in den Einrichtungen soll diese Entscheidung nicht hinterfragen."

Doch auch das Fachpersonal muss an seine eigene Gesundheit denken. "Ich bin jeden Tag mit mindestens acht Haushalten zusammen, viele Kinder sind in dieser Jahreszeit erkältet", sagt Michel. "Ich würde gerne mal wieder unbeschwert mit meiner Mutter spazieren gehen, aber das ist momentan einfach nicht drin." Sorgen, die auch Thomas jeden Tag beschäftigen. "Ich habe keine Angst, sonst könnte ich meinen Beruf nicht ausüben. Aber eine gewisse Unsicherheit schwingt trotzdem mit. Ich habe meine sozialen Kontakte deswegen schon komplett runtergefahren." 

Eine Situation, die ebenso Spuren hinterlässt. "Wenn Fachkräfte zu viele Kinder betreuen – von Bildung kann bei wenig Personal und zu vielen Kindern oft nicht mehr die Rede sein – und gleichzeitig ständig vakante Personalstellen ausgleichen und/oder andere Kolleg*innen vertreten müssen, treten Überforderungen und das Gefühl des Alleingelassenwerdens ein", merkt die Gewerkschaft an.

Kinder leiden unter Schlafstörungen 

Was bleibt ist die Hoffnung, dass sich die Lage bald wieder beruhigt. Denn auf Dauer ist dieser Zustand für niemanden tragbar – nicht für die Erzieherinnen und Erzieher, Eltern und – vor allem – nicht für die Kinder. "Es wird mittlerweile von Schlafstörungen und depressiven Zuständen bei Kindern berichtet", so der Landeselternbeirat. Aus Sicht des LEB ist es nach zehn Monaten Pandemie "überfällig, Kinder als gleichwertige Gesellschaftsmitglieder zu berücksichtigen." 

Auch Kinder haben "Bedürfnisse und Rechte, die gestillt werden müssen". Insbesondere müsse "endlich erkannt werden, dass die Belastungen und Schäden, die Kinder in dieser Pandemie erleben, keinesfalls durch finanzielle Hilfen ausgeglichen oder abgefedert werden können, sondern ausschließlich durch das eigene Erleben", heißt es vom LEB weiter. Das bestätigt auch Michel. "Wenn die Kinder bei uns sind, haben sie die Zeit ihres Lebens. Und die leuchtenden Kinderaugen sind nach wie vor der Grund, wieso ich meinen Beruf liebe – Pandemie hin oder her."

Quellen: "Landeselternbeirat der Kindertageseinrichtungen in NRW", "Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen",  "Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft NRW"

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