Game over für Tyler Rigsby. Der 15-jährige Junge aus dem US-amerikanischen Columbus hatte vier, vielleicht sogar fünf Tage lang ununterbrochen vor dem Videospiel "Call of Duty: Modern Warfare 3" gesessen. Als er sich endlich mal von dem Bildschirm lösen konnte und mit seiner Mutter eine Verwandte besuchte, kollabierte er. Im Krankenhaus mussten die Ärzte den blau angelaufenen Tyler an den Tropf hängen. Er war dehydriert. Denn offensichtlich hatte das Spiel den Jungen so in seinen Bann gezogen, dass er völlig vergessen hatte zu trinken.
Tyler Rigsby geht es US-Medienberichten zufolge wieder besser - obwohl ihm seine Mutter die X-Box weggenommen hat. Der Familie Rigsby könnte es so vielleicht gelingen, den Jungen aus der virtuellen Welt zu befreien. Dann bleibt ihm das Schicksal erspart, das Spielsüchtige auf der ganzen Welt ereilt, auch in Deutschland. Der Sohn von Christoph Hirte aus Gräfeling bei München ist einer, der es nicht geschafft hat. Der Vater musste mit anschauen, wie Fabian (Name geändert) sein Leben mehr und mehr an den Computer verlor.
Online-Welt statt Hörsaal
Im Frühjahr 2007 ist Fabian ein ganz normaler junger Mann, der fern der Eltern studiert und sich sein eigenes Leben samt Freundeskreis aufbaut. So denken zumindest seine Eltern. Und sie liegen dabei gar nicht mal so falsch. Doch Fabians Welt sind nicht die Hörsäle, die Bibliothek oder die Studentenparties seiner Uni in Nordrhein-Westfalen. Mit seinen Freunden trifft er sich auch nicht zum Essen in der Mensa oder zum Biertrinken in der Kneipe. Fabian lebt in der Welt von "Azeroth", er spielt jeden Tag viele Stunden lang "World of Warcraft" (WoW), das wohl weltweit erfolgreichste Online-Rollenspiel.
Seinen Eltern erzählt der Informatikstudent stolz, dass er als Tester für ein Computerspiel ausgewählt worden sei. Christoph Hirte und seine Frau denken sich noch. "Klar, er studiert das doch, er muss auf dem Feld halt seine Erfahrungen machen." Doch irgendwann werden sie stutzig. Denn ihr Sprössling geht nicht mehr ans Telefon, antwortet kaum noch auf Emails. Dann teilt er mit, ein paar Monate Auszeit vom Studium zu nehmen und zu seiner Freundin zu ziehen. Einige Wochen später rufen Handwerker bei seinen Eltern an. Sie müssten eigentlich wegen eines Wasserrohbruchs in Fabians Studentenbude. Doch die Wohnung sei so vermüllt, Arbeiten sei da unmöglich.
Die schockierten Eltern reisen nach NRW und wollen von ihrem Sohn wissen, wie es so weit kommen konnte. Zum ersten Mal erfahren sie dabei, dass ihr Fabian kaum mehr etwas anderes tut als WoW zu spielen. "Es war für uns bis zu diesem Zeitpunkt einfach völlig unvorstellbar, dass ein Computerspiel einen intelligenten Menschen so völlig in seinen Bann ziehen kann", sagt Christoph Hirte. Die Eltern reisen ernüchtert wieder ab. Der Vater will nicht vor einem Computerspiel kapitulieren. Vier Wochen lang nimmt sich der Selbständige Urlaub, recherchiert im Internet und spricht mit unzähligen Experten, Ärzten und Suchttherapeuten. "Ich wollte verstehen, was hier passiert." Irgendwann wird ihm klar: "Mein Sohn ist süchtig nach dem Heroin aus der Steckdose."
560.000 süchtige Deutsche
Die Hirtes schaffen es, ihren Sohn heim nach Bayern zu holen. Stundenlang sprechen sie mit ihm, der Sohn ist beeindruckt vom Wissen seiner Eltern. Am Ende legen sie ihm einen schriftlichen Vertrag vor: Entweder Fabian lässt sich in einer Klinik behandeln und bekommt sämtliche Unterstützung der Eltern oder sie stellen alle Zahlungen an ihn ein. "Die Suchtberatung hat uns dazu geraten. Das ist der einzige Hebel, den man hat", sagt Hirte. Zur großen Überraschung seiner Eltern unterschreibt ihr Junge – widerwillig – den Vertrag. Aber die Sucht ist stärker. Fabian reist ab. Er beendet sein Studium, beantragt Sozialhilfe, bricht den Kontakt zu seinen Eltern für Jahre völlig ab. Die müssen einsehen, dass die virtuelle Welt ihres Sohns stärker ist als das richtige Leben.
Christoph Hirte betreibt mittlerweile die Seite „rollenspielsucht.de“, auf der er umfangreiche Informationen zu dem Thema gesammelt hat. Er hält Vorträge und ist zu einem bundesweit anerkannten Experten für das Thema Online-Spielsucht geworden. Inzwischen weiß er, dass sein Sohn einer von vielen hunderttausend Süchtigen allein in Deutschland ist, 560.000 sollen es laut einer Studie der Bundesregierung sein. "Online-Sucht muss endlich als eine Krankheit anerkannt werden", sagt Hirte. "Denn so wie Alkohol und Drogen hat diese Sucht erhebliche Konsequenzen für die Betroffenen und deren Familien."
"Wer gewinnen will, darf nicht aufhören"
Auf Hirtes Seite prangt das Bild einer Puppe, die am Computer angekettet auf einem Stuhl sitzt. Dieses Symbolbild hat aber einen ganz realen Hintergrund. Immer wieder gibt es Berichte über Spieler wie Fabian, die ihr gesamtes Leben für das Daddeln aufgeben und dabei sogar sterben, wie jüngst ein #link;www.computerbild.de/artikel/cbs-News-PC-Diablo-3-18-Jaehriger-stirbt-nach-Marathonsitzung-7628759.html;Spieler aus Taiwan#. Hirte hat mit Eltern gesprochen, deren Kinder in Hungerstreik treten, um ihren Willen nach mehr Computerspielzeit durchzudrücken oder die Schulausflüge absagen, weil die ihnen "zu real" sind.
Dieses Suchtverhalten werde von Spielefirmen ganz bewusst gefördert, sagt Rainer Thomasius. Er leitet die Drogenambulanz für Jugendliche am Universitätsklinikum Hamburg und hat sich dort auch auf die Behandlung der Online-Spielsucht spezialisiert. "Die Spiele sind so gestaltet, dass sie insbesondere suchtanfällige Kinder und Jugendliche ansprechen", sagt Thomasius. "Jugendliche, die sich in ihrem normalen Umfeld als ungeliebt oder ungenügend fühlen, die Angst vor engen Bindungen haben, können diese Defizite mit einem Mausklick ausblenden." Eine Vielzahl von Psychologen sei in die Entwicklung der Spiele eingebunden. "Sie arbeiten sehr stark mit dem Reiz der Belohnung. Die Spieler werden immer mächtiger. Und wer gewinnen will, muss das Spiel eigentlich ununterbrochen spielen und darf nicht aufhören."
Hilfe holen beim leisesten Verdacht
Sind tagelange Exzesse wie bei Tyler Rigby also gewollt? Eine Anfrage von stern.de bei Blizzard Entertainment, der Schöpferfirma von WoW und ähnlichen Spielen, blieb zunächst unbeantwortet. Blizzard hat auf seiner Seite zwar eine Art Unternehmenskodex veröffentlicht, zum Thema Spielsucht oder den Gefahren von exzessivem Daddeln ist darin nichts zu lesen. Dort steht nur: "Unsere Produkte und Methoden können (…) Spieler beeinflussen."
Christoph Hirte weiß das. Deshalb will er den Betroffenen unbedingt helfen. Auf einer Seite hat er eine Liste mit #link;www.aktiv-gegen-mediensucht.de;Anlaufstellen# zusammengestellt. Er rät Eltern, sich Medienkompetenz anzueignen und sich bei dem leisesten Verdacht, dass aus einem Faible zu Online-Spielen eine Sucht werden könnte, Hilfe zu holen. Fabian hat sich in den vergangenen Jahren aufgerappelt, arbeitet und hat wieder unregelmäßigen Kontakt mit seinen Eltern. Aber sein Vater meint, dass ihn nur ein längerer Klinikaufenthalt endgültig von der Sucht befreien könnte.