Loslassen ist ein Thema, das nicht nur in Liebesbeziehungen eine große Rolle spielt. Warum tun wir uns so schwer damit?
Dorothea Behrmann: Wir Menschen sind von Natur aus auf Zusammengehörigkeit gepolt. Wir ziehen sehr viel Energie aus zwischenmenschlichen Beziehungen und sind ein Stück weit auch darauf angewiesen, Wertschätzung und Liebe von anderen zu empfangen. Man kann also sagen, wir sind nicht dafür gemacht, uns von anderen Menschen zu trennen. Daher widerstrebt es uns auch, andere Menschen loszulassen.
Trotzdem – oder gerade deshalb – haben Sie ein ganzes Buch übers Loslassen geschrieben. Warum ist das Thema so wichtig?
Heutzutage entspricht es nur noch selten der Realität, dass Liebespaare ewig zusammenbleiben oder Freundschaften ein Leben lang halten. Loslassen gehört also zu unserem Alltag, ob wir wollen oder nicht. Das Leben besteht aus Veränderung, wir müssen uns also regelmäßig von Altem verabschieden, um Neues zulassen zu können. Trotzdem verbinden wir Loslassen nach wie vor mit Scheitern und halten nur zu gerne an Menschen und Lebensweisen fest, selbst wenn sie uns schon lange nicht mehr zufrieden machen.

Warum Menschen oft lange mit der Trennung warten
Sie schreiben in Ihrem Buch über die sieben Phasen des Loslassens. Wo fängt Loslassen eigentlich an?
Allein die Entscheidung, sich von jemandem oder etwas zu lösen, ist enorm schwierig, aber sie ist der erste Schritt des Loslassens. Sobald die Entscheidung einmal getroffen ist, beginnt man unterbewusst, sich zu lösen. In einer Liebesbeziehung ist das oft eine Phase, die der Partner noch nicht wirklich mitbekommt. Das ist eher ein innerer Prozess, den die meisten von uns lieber mit sich selbst ausmachen.
Woran merke ich denn, dass ich mich in einer solchen Phase befinde?
Das zeigt sich sicher bei jedem unterschiedlich, aber wenn ich unglücklich in meiner Beziehung bin, immer mal wieder über eine Trennung nachdenke oder mich von meinem Partner nicht mehr gesehen fühle, sind das sicher erste Anzeichen. Oft beginnen dann innerliche Debatten über das, was uns in der Partnerschaft unzufrieden macht, weil wir vor uns selbst rechtfertigen, warum wir uns so fühlen und diese Gedanken haben, obwohl wir von Natur aus anhaftende Wesen sind, die Beziehungen brauchen. Das ist auch der Grund, wieso viele Menschen so lange mit der Trennung warten, obwohl sie sich längst dafür entschieden haben.
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Für viele Jugendliche hat das Tagebuchschreiben einen festen Platz im Alltag. Man notiert, was einen beschäftigt, wie es einem geht und wovon man träumt. Je älter wir werden, desto eher hören wir allerdings damit auf, unsere Gedanken zu Papier zu bringen. Dabei kann so ein Tagebuch echt hilfreich sein. Wer seine Gedanken aufschreibt, der schafft Platz im Kopf. Das hilft vor allem dann, wenn man im Gedankenkarussell gefangen ist oder sich nicht konzentrieren kann, weil ständig neue Tabs im Kopf aufploppen. Außerdem reflektieren wir unsere Gedanken und Erlebnisse noch einmal, wenn wir sie aufschreiben. Das kann uns helfen, den Blick zu weiten und neue Perspektiven einzunehmen. Das Tagebuch kann also helfen, zu neuen Erkenntnissen zu kommen, sich selbst besser kennenzulernen und Struktur ins Gedankenchaos zu bringen. Und wenn man sich daran mal nichtmehr erinnern kann, dann hat man es ja sogar schriftlich.
Klingt ziemlich unbefriedigend für alle Beteiligten…
Richtig. Ich kriege in der Praxis immer wieder Geschichten mit, bei denen die Kinder zu den Eltern gehen und fragen, beim wem sie leben werden, wenn sie sich trennen. Da spüren die Kinder schon lange, was im Argen liegt, bevor die Erwachsenen es ansprechen. Natürlich sieht man von außen immer nur einen Bruchteil einer Liebesbeziehung – aber oft stimmt das Bauchgefühl von Freunden und Bekannten eben am Ende doch.
Gehen oder bleiben?
Und wie komme ich aus dem inneren Zwiespalt zwischen Gehen oder Bleiben raus?
In der Gestalttherapie gibt es eine Methode, bei der man die einzelnen miteinander im Clinch liegenden inneren Anteile zu dem Thema bewusst zu Wort kommen lässt. Das hört sich im ersten Moment vielleicht suspekt an, kann aber sehr hilfreich sein. Ich kann zum Beispiel dann der Intuition zuhören, der Vernunft oder der Angst – all diese Facetten haben wahrscheinlich unterschiedliche Perspektiven auf die Entscheidung, sich zu trennen oder bei dem Partner zu bleiben. Jeder dieser Anteile hat seine Berechtigung, aber wenn man sich jeden von ihnen einzeln anhört, dann merkt man oft, welchem man folgen sollte. Und wenn es die Stimme ist, die für die Trennung spricht, dann ermutige ich dazu, der Entscheidung bald Taten folgen zu lassen.
Sie raten den Klienten dann also dazu, sich zu trennen?
Genau. Das ist keine einfache Sache, das ist mir klar. Das Problem ist, dass Trennungen heute noch immer sehr negativ behaftet sind. Wir verbinden sie immer mit etwas Schlimmem und haben das Gefühl, wir sind schlechte Menschen, wenn wir uns von einem anderen Menschen lösen. Es fühlt sich für viele an wie Scheitern.
Naja, eine Trennung ist ja auch das Ende eines gemeinsamen Projektes, wenn man so will…
Ja, aber das hat nichts mit Scheitern zu tun. Ich finde diesen Ansatz total falsch. Ganz egal, ob eine Freundschaft oder eine Liebesbeziehung endet, sie hatte mit Sicherheit ihre Berechtigung. Aber Menschen und Lebenswege verändern sich nun einmal im Laufe der Zeit – und das nicht immer in die gleiche Richtung. Da ist eine Trennung manchmal nur die logische Konsequenz.

Und trotzdem halten viele Menschen an ihrer unglücklichen Beziehung fest. Warum?
Oft wollen sie unangenehme Schuldgefühle vermeiden, oder sie haben Angst vor der Trennung. Dann erzählt man sich lieber immer wieder eine andere Ausrede, warum die Trennung noch nicht möglich ist. Zum Beispiel, weil Weihnachten ist, die Kinder noch nicht aus dem Haus sind oder der Partner bald Geburtstag hat. Wer Gründe sucht, der wird sie finden. Den richtigen Zeitpunkt für eine Trennung gibt es rein objektiv nicht. Er ist eigentlich dann, wenn man sich sicher ist, dass es die richtige Entscheidung ist.
Kein Loslassen ohne Schmerz
Wechseln wir einmal die Seiten: Wie ergeht es denn Partnern von Menschen, die sich emotional langsam distanzieren, sich aber nicht trennen?
Da spielt Hoffnung eine große Rolle. Oft merken die Personen, dass sich ihr Partner von ihnen abwendet oder sein Verhalten sich verändert. Aber viele wollen das dann nicht wahrhaben oder denken, sie müssten sich nur mehr bemühen, um den Partner wieder für sich zu gewinnen. Daraus ergibt sich oft eine Art Schwebezustand innerhalb der Beziehung, der für beide Seiten quälend ist.
Nehmen wir an, es kommt zur Trennung. Wer leidet in der Regel mehr?
Für die Person, die die Initiative zur Trennung ergreift, ist es meistens ein bisschen einfacher. Das liegt daran, dass sie sich schon gedanklich und emotional mit dem Szenario auseinandergesetzt hat. Der andere Part wird oft überrumpelt und steht von jetzt auf gleich vor vollendeten Tatsachen. Mir ist aber wichtig zu erwähnen, dass beide Partner leiden, nur eben unterschiedlich.
Inwiefern?
Wer sich von seinem Partner trennt, der erlebt danach oft erst mal eine Phase der Euphorie. Nachdem die Entscheidung ausgesprochen und die Trennung vollzogen ist, fühlt man sich frei und lebendig. Aber irgendwann kommt man dann vielleicht in die leere Wohnung und fühlt sich plötzlich allein und beginnt die andere Person zu vermissen. Das sind Emotionen, die beim Loslassen aber völlig normal sind.
Also gibt es kein Loslassen ohne Schmerz?
Nein. Man darf ja nicht vergessen, dass man sich unabhängig von der Beziehungsdauer aneinander gewöhnt und oftmals viel gemeinsam erlebt hat. Und wenn der erste Stress der Trennung vorbei ist, dann kommt oft das Gefühl der Einsamkeit hoch.
Wenn Liebe zur Droge wird
Sie sagten mal, Sie haben ein Problem mit dem Begriff "verlassen" in Bezug auf das Ende einer Liebesbeziehung. Warum?
Sprache ist mächtiger, als uns bewusst ist. Indem wir von Verlassenen sprechen, verknüpfen wir Trennungen automatisch mit Scheitern. Das klingt immer ein bisschen nach einer Mutter, die ihr Kind im Stich lässt. Bei einer Liebesbeziehung handelt es sich aber um zwei Erwachsene, die eine Verbindung miteinander eingehen – aber keiner der beiden ist für den jeweils anderen verantwortlich. Also kann auch niemand jemanden verlassen. Wenn ich mich in der Beziehung nicht mehr wohlfühle und diese mir nicht mehr guttut, dann beende ich sie. Nicht mehr und nicht weniger.
Wie wir mit Trennungen umgehen, ist höchst unterschiedlich. Während manche den Ex-Partner verteufeln, fangen andere an, ihn im Nachhinein zu idealisieren. Woran liegt das?
Die Phase des Idealisierens kommt eigentlich immer irgendwann. Dafür gibt es sogar biologische Gründe: Liebe funktioniert ein bisschen wie eine Droge. Wenn wir den Partner dann nicht mehr wie gewohnt ständig um uns herum haben, dann setzen irgendwann Entzugserscheinungen ein. Unser Körper beginnt also, immer mehr von der Droge, also dem Ex-Partner, zu wollen. Und die Sehnsucht steigt.
Klingt nicht unbedingt nach Spaß…
Keinesfalls. Und das Einzige, was hier hilft, ist der kalte Entzug. Also ein kompletter Kontaktabbruch nach der Trennung. Es gibt ja viele Leute, die versuchen, befreundet zu bleiben. Aber jedes Mal, wenn man Kontakt zu dem Ex-Partner hat, ihn sieht oder auch nur seine Stimme hört, wird man wieder getriggert. Das passiert nicht einmal bewusst, aber es hindert uns daran, wirklich loszulassen.
Was nach einer Trennung bleibt
Und wie gehe ich mit den Phasen des Grolls um?
Ich finde, die gehören dazu und sind total menschlich. Was am besten hilft, ist, sich mit Freunden oder Bekannten darüber auszutauschen. Und dann raus aus der Opferrolle zu kommen. Eine Trennung liegt selten nur an einer Person, meistens haben beide Parteien ihren Teil dazu beigetragen. Es lohnt sich, zu schauen, woran die Beziehung gescheitert ist – um beim nächsten Mal nicht die gleichen Fehler wieder zu machen.
Selbst dann, wenn keine Gefühle mehr für den anderen da sind?
Das mit den Gefühlen ist immer so eine Sache. Selbst wenn wirklich keine Liebe mehr im Spiel ist, bleibt ein Rest Vertrautheit oder Gewohnheit trotzdem da. Und wenn der Kontakt bestehen bleibt, wird dieser Teil immer wieder aufs Neue gefüttert.
Sie schreiben in Ihrem Buch von Loslassen als Prozess. Wie komme ich denn von dem Gefühlschaos zum Neuanfang?
Nachdem man die aufkommenden Emotionen durchfühlt hat, lohnt es sich, sich mit gezielten Fragen zu reflektieren. Man sollte herausfinden, was man möchte und welche Bedürfnisse in der vergangenen Beziehung vielleicht nicht erfüllt werden konnten. Und natürlich auch, welchen Teil man selbst zur Trennung beigetragen hat. Und dann heißt es: aktiv werden und sich auf den neuen Lebensabschnitt einlassen.