Meistens verabredet die Frau den ersten Termin zu einer Paartherapie. Und oft sitzt der Mann zunächst sehr skeptisch da und macht aus seinen Vorbehalten kein Hehl. Nicht so bei diesem Paar. Herr L. hat spürbar großes Interesse an dem Gespräch. Er und seine langjährige Freundin, Frau S., fühlen sich in einer Sackgasse gefangen. Sie hätten den sexuellen Zugang zueinander verloren. Seit einem halben Jahr haben sie keinen Sex mehr miteinander, obwohl beide "eigentlich" wollen. Frau S. betont, sie sei "eigentlich" eine sinnliche Frau, ertrage aber seine Unehrlichkeit nicht und könne sich deshalb nicht auf ihn einlassen. Und Herr L. meint, dass ihm die dauernden Vorwürfe seiner Partnerin die ganze Lust nähmen, die er "eigentlich" auf sie habe.
Die Vorwürfe und Erotik
Was war geschehen? Frau S. hatte einige Monate zuvor herausgefunden, dass sich Herr L. mit einer früheren Geliebten getroffen hatte. Die etwa ein Jahr dauernde Beziehung mit dieser Frau hatte er vor drei Jahren beendet. Die spätere, einmalige Begegnung sei "freundschaftlich" verlaufen. Frau S. glaubt ihm nicht. Das Treffen hatte in ihr lange zurückliegende Kränkungen wachgerufen, die sich auch auf andere, länger zurückliegende Affären ihres Partners bezogen hatten.
Sie verbringen die Zeit mit nächtelangen kraftraubenden Gesprächen, in denen er versichert, er habe seit drei Jahren keine andere Frau mehr angerührt. Sie quält ihn und sich selbst damit, dass sie ihm nicht vertrauen könne. Beide sind ratlos. Denn "eigentlich" wollen sie Sex miteinander, wie beide versichern. Wenn nicht das Vertrauensproblem zwischen ihnen stünde. Herr L. sagt: "Ich habe damals Fehler gemacht, die ich auch bedaure. Aber was soll ich denn heute noch machen?"Und Frau S.: "Wie soll ich ihm vertrauen können, wo er mich doch damals belogen hat?"
Der endlose Kreisverkehr
Vorwürfe und unerledigte offene Rechnungen aus der Vergangenheit gehören zu den häufigsten Barrieren, die der Sexualität in langjährigen Beziehungen im Weg stehen. Bei solchen Konflikten begibt sich einer der Partner in die Position des anklagenden Opfers, der andere in die des sich verteidigenden Täters. Und in dieser Rollenverteilung eskaliert der Streit: Je mehr Vorwürfe das Opfer macht, desto mehr verteidigt sich der Täter. Je mehr der sich verteidigt und rechtfertigt, desto mehr legt das Opfer mit Vorwürfen nach.
Und so treiben sich die beiden in einen endlosen Kreisverkehr. Wie ist der Ausstieg möglich? Dafür sollte man sich vor Augen halten, dass ein betrogener Partner trotz seiner Verletzung in der stärkeren Position ist. Denn er hat die Moral auf seiner Seite. Deshalb ist es auch seine Entscheidung, ob er den andern aus der "Schuld" entlässt oder nicht. Und unter welchen Bedingungen.
Der Ausstieg aus dem Vorwurf
Ich frage Frau S., ob aus ihrer Sicht Herr L. sein Leben lang schuldig bleibt oder ob er etwas tun kann, das ihr es erlaubt, ihm zu verzeihen. Nach langem Überlegen sagt sie etwas scheinbar Einfaches: "Er soll mir einmal zuhören, was mir das ausgemacht hat, ohne mich zu unterbrechen. Aber richtig zuhören! Und er soll mir sagen, warum er es gemacht hat."
Er lässt sich darauf ein. In der Tat ist das ein großer Schritt, den sie dann auch in einer Therapiesitzung vollziehen. Er hört zu. Richtig. Und er nennt als Grund sein Bedürfnis nach männlicher Bestätigung. Sie fragt nachdenklich: "Und brauchst du die jetzt nicht mehr?" –"Nicht mehr in dem Maße wie früher", antwortet er, "und ich hätte sie am liebsten von dir."
Es braucht Zeit, bis Frau S. dieser Aussage traut. Kurz nach dieser Sitzung verbringen die beiden einen Kurzurlaub, in dem es zum ersten Mal seit Langem wieder zu Zärtlichkeiten kommt. Nicht der große sensationelle Sex wie zu Beginn der Beziehung kehrt ein. Aber wenn sie miteinander schlafen, beginnt sich bei beiden das Gefühl auszubreiten, wieder zueinandergefunden zu haben.