Nett war der Brief und gleich per Du: "Wir freuen uns sehr, Dir mitteilen zu können ...", begann er. Karen Röcher konnte es kaum fassen. Ein Jahr Schüleraustausch in Montreal! Mit 17 ganz weit weg von zu Hause, Französisch lernen in Kanada. Davon hatte sie lange geträumt.
Was kam, glich eher einem Albtraum. Nach der ersten Begeisterung wurde Kanada für Karen von Tag zu Tag bedrohlicher. Ein Fast-Food-Land, fürchtete sie, wie die USA: Burger, Hotdogs, Dicke. Dort würde sie bis zur Unförmigkeit aufquellen! "Ich wollte unbedingt vorher abnehmen, am besten zehn Kilo oder mehr. Damit ich für Montreal einen Puffer hätte." Also verzichtete sie auf Süßes. Statt Schokocroissants frühstückte sie Vollkornbrot. Zur Schule nahm sie nur noch Obst mit. In fünf Wochen verlor Karen 10 Pfund, nahm von 53 auf 48 Kilo ab.
Es reichte ihr aber nicht. Immer öfter legte sie Fastentage ein. Erzählte den Eltern, sie habe woanders gegessen oder ihr sei nicht wohl. Nach zwei Monaten spürte sie, dass sie sich nicht mehr im Griff hatte, "weil ich alles, was ich aß, total geplant habe". Später war auch das egal.
Freunde riefen nicht mehr an
Dass die Eltern sich sorgten, der Hausarzt ihre Blutwerte katastrophal nannte, es drang nicht mehr durch. Freunde riefen sie schon länger nicht mehr an. Am Ende landete sie nicht in der Neuen Welt, sondern in Prien am Chiemsee: auf einer Station für Essgestörte in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck.
In nur sechs Monaten hat die Anorexie, die Magersucht, Karens Leben verschluckt. Zurück blieb eine todkranke 17-Jährige, 1,70 Meter groß, 38 Kilo leicht.
Magersucht ist weiblich und inzwischen geradezu unheimlich jung. Sie trifft mindestens eine von 200 Frauen zwischen 15 und 35. Viele verfallen ihr als Jugendliche, wenn andere Teenager Zukunftspläne schmieden. Grob geschätzt 100.000 Magersüchtige leben in Deutschland, davon ist nur ein Bruchteil männlich. Die genaue Zahl kennt niemand, weil viele nie bei einem Arzt auftauchen - sie fühlen sich schlank, nicht krank.
Wer überlebt, bleibt gezeichnet
Klar ist dagegen, dass jede Zehnte an den Folgen stirbt: an Nierenversagen, Herzversagen oder Infektionen, die der ausgezehrte Körper nicht mehr besiegen kann. Keine psychisch bedingte Erkrankung tötet so viele junge Frauen, wie Magersucht es tut. Und wer die Hungerspirale überlebt, bleibt ein Leben lang gezeichnet. Calciummangel und der für ein angemessenes Training der Knochen viel zu leichte Körper lassen ein sprödes, von Osteoporose zerfressenes Skelett zurück: Wirbel und Oberschenkelhälse einer 80-jährigen Greisin im Körper einer Studentin. Hungern und Dursten ruinieren die Nieren, manche Magersüchtige hängen an der Dialyse. Und ob der Trieb zum Immer-weniger-Werden bleibende Schäden im Gehirn hinterlässt, wird unter Forschern diskutiert.
Bis heute rätseln Wissenschaftler, wieso jemand sich so etwas antut. Nicht mehr aufhört zu hungern, obwohl über Rippen und Wangenknochen bereits die Haut spannt. Magersüchtige sind besessen von Essen, Gewicht und Figur. Auf den ersten Blick ist das eine übertriebene Hingabe an ein Schönheitsideal. Aber auch wenn Diäten den Einstieg in den Hunger-Exzess erleichtern, gerät längst nicht jedes Mädchen hinein. Was also unterscheidet Magersüchtige von schlicht Figurbewussten? Wird jemand mit der Anlage zur Störung geboren? Wird sie anerzogen?
Machte man noch vor einigen Jahrzehnten die Familie, insbesondere eine angeblich "überkontrollierende" Mutter für das Hungern der Tochter verantwortlich, gehen Wissenschaftler heute von einem Ursachen-Mosaik aus: Genetische Veranlagung, Einfluss der Familie, belastende Erlebnisse und eine unsichere Persönlichkeit können sich auf unheilvolle Weise verbinden und ihr Opfer in die Falle treiben.
Bulimiker sind eher normalgewichtig
Neben der Magersucht gilt als weitere gefährliche Essstörung die Bulimie oder Ess-Brech-Sucht. Anders als Anorektiker sind Bulimiker eher normalgewichtig. Regelmäßig stopfen sie anfallsartig riesige Mengen in sich hinein, oft Kalorienbomben wie Schokolade, Kuchen, Kekse, Fertigpizza. Und stecken nach der Attacke den Finger in den Hals. Oder schlucken Abführmittel. Nach amerikanischen Standards gehört auch die erst in den Neunzigern beschriebene Binge-Eating-Störung dazu.
"Binge Eating" heißt "Hinunterschlingen". Auch hier leiden Patienten unter heftigen Essattacken, behalten die Kalorien aber bei sich und werden dick. Unter Binge Eatern gibt es rund 40 Prozent Männer - viel mehr als unter Magersüchtigen und Bulimikern. Eine letzte große Gruppe Essgestörter lässt sich nicht eindeutig den drei Krankheitsbildern zuordnen oder schlingert zwischen ihnen umher. Dagegen gilt es noch nicht als Essstörung, wenn jemand einfach nur dick ist, was laut der gerade vorgestellten Nationalen Verzehrsstudie mehr als die Hälfte der Deutschen betrifft.
Niemand ist einfach süchtig nach Hungern oder Essen. Eine Substanz, nach der Psyche und Körper gieren wie nach Alkohol oder Nikotin, lässt sich bei Essgestörten nicht dingfest machen. Von heute auf morgen aufhören mit dem bizarren Essverhalten können die Befallenen allerdings auch nicht. Wie schwer das für Normalesser zu begreifen ist, hat Karen Röcher täglich beim Abendessen erfahren: "Nimm doch endlich mal Käse aufs Brot, haben meine Eltern gesagt. Ich hätte aber gar nichts mehr runtergekriegt. Egal, wie viel Hunger ich hatte, mein Kopf hat mir verboten zu essen."
Magersüchtige sind meist ehrgeizig
Magersüchtige darben nicht aus "Selbstdisziplin", wie sie sich gern selbst einreden. Ihnen entgleitet die Kontrolle, oft schleichend: ein bisschen Verzicht hier, ein wenig mehr Sport da. Häufig bekommen die Betroffenen anfangs Komplimente für ihren gertenschlanken Körper. Verstärkend wirkt, dass Magersüchtige meist ehrgeizige Menschen sind. Ihr Gehirn ist sehr empfänglich für Erfolg, erklärt Manfred Fichter, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität München und Ärztlicher Direktor der Klinik Roseneck: "Wenn Magersüchtige es geschafft haben abzunehmen, ist das für sie ein enormes Erfolgserlebnis. Dann schüttet das Gehirn viel von dem Botenstoff Dopamin aus und belohnt das Hungern."
Eine ähnliche Belohnungspanne bringt Bulimiker in die falsche Spur: Wer ständig hungert, stachelt seinen Körper regelrecht zu Essattacken an. Essen und Erbrechen können anfangs angenehmer sein als dauernder Verzicht, sagt Stephan Herpertz, Leiter der Abteilung für psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Westfälischen Klinik Dortmund: "Manche Bulimiker erleben die Anfangsphase ihrer Krankheit als glücklichste Zeit ihres Lebens: Sie können essen, was sie wollen, ohne dick zu werden."
Der Leidensdruck kommt später, wenn man sich immer machtloser fühlt, sich über der Toilettenschüssel vor sich selbst ekelt oder durch die Essanfälle von Woche zu Woche doch dicker wird, sagt Herpertz: "Der Kopf kämpft tagein, tagaus gegen den Körper. Man versucht mit aller Kraft, sich im Griff zu behalten. Bis die Kontrolle dann wieder zusammenbricht und der nächste Anfall kommt."
Allmählich beginnen Wissenschaftler, die Wechselbeziehung zwischen Gehirnstoffwechsel und Essstörungen zu verstehen. Ins Visier der Forscher rückten körpereigene Substanzen, die auch an der Entstehung von klassischen Suchtkrankheiten beteiligt sind: Serotonin und Dopamin. Bei Magersüchtigen stießen sie auf Genvarianten, die dazu führen, dass sich die Kontakte für den Botenstoff Serotonin verändern. Bei Bulimie werden ähnliche Mechanismen vermutet. Und interessanterweise steuern einige Serotonin-Rezeptoren im Gehirn ebenso die angenehmen Wirkungen von Drogen wie auch die Mengen, die jemand isst.
So ist sicher, dass die Partydroge Ecstasy den Appetit zügelt. Aber erst vor ein paar Monaten fanden französische Forscher an Mäusen heraus, dass dafür eine bestimmte Art von Serotonin-Kontaktstellen im Gehirn verantwortlich ist. Die kommt in großer Zahl im Belohnungszentrum vor, wo Drogen ihre Anziehungskraft entfalten. Die Experten interpretierten ihre Ergebnisse so, dass Menschen mit Veränderungen an diesen Andockstellen besonders anfällig für Magersucht sein könnten und wohl auch besonders schwer von ihr loskommen.
Andere Studien haben bei Anorektikern einige Auffälligkeiten im Dopamin-Stoffwechsel nachgewiesen. Eine Hypothese dazu lautet: Genetische Varianten der Dopamin- Rezeptoren bewirken, dass Magersüchtige weniger Lust beim Essen empfinden als Gesunde.
Hungern verändert die innere Erlebniswelt
Allerdings sind Ursache und Wirkung nicht leicht auseinanderzuhalten: Das Hungern selbst verändert nämlich das Zusammenspiel der Signale im Gehirn - und damit die innere Erlebniswelt. Das wird jeder bezeugen, der hart gefastet und sich dabei als gelöst, ja euphorisch erlebt hat. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass Hungern im Gehirn in wenigen Tagen zu einem Serotoninstau führt. Dies hebt die Stimmung und trägt bei empfindlichen Menschen wohl dazu bei, dass eine Magersucht fortbesteht.
Dazu nehmen vor allem Magersüchtige, aber auch viele Bulimiker ihren Körper verzerrt wahr. Sie überschätzen ihre Leibesfülle dramatisch und empfinden sich selbst dann noch als fett, wenn die Klamotten längst schlottern. Der Blick in den Spiegel vermittelt ihnen auch kein objektives Maß für die Maße. Essgestörte liegen oft um 20 oder 30 Zentimeter daneben, wenn sie - ohne abzumessen - den Umfang ihrer Taille als Länge auf einem Seil markieren sollen. Das entspricht einem Schätzfehler von 20 bis 30 Kilo.
An Magersüchtigen nagt durchaus immer wieder der Hunger, sie blenden ihn aber konsequent aus - ebenso wie Müdigkeit, Schmerz, Trauer oder Ärger. Dazu passt, dass viele Essgestörte sich unheimlich anstrengen, um es allen recht zu machen. Bei dermaßen angepassten, unauffälligen Persönlichkeiten ist es für Freunde oder Eltern kaum möglich, die frühen Alarmzeichen wahrzunehmen: Die Bulimie, deren Opfer eher normalgewichtig sind, kann über Jahre unentdeckt bleiben. Auch Magersüchtigen gelingt es, sehr überzeugend zu behaupten, dass ihnen nichts fehlt, sagt Manfred Fichter: "Essgestörte können ihre Umgebung jahrelang in dem Glauben halten, es gebe kein Problem. Die Eltern machen sich Sorgen, aber ihr Kind überzeugt sie immer wieder, dass es gar nicht krank sei."
Diäthalten im Dauerzustand
Daher sollten Eltern, Freunde, Lehrer aufmerksam werden, wenn bei einer Jugendlichen das Diäthalten zum Dauerzustand wird, das Gewicht immer wieder schwankt oder sie gar Appetitzügler oder Abführmittel schluckt, um abzunehmen. Dann kann bereits eine latente Essstörung vorliegen. Eingreifen müssen Eltern spätestens dann, wenn ihr Kind den Rückzug antritt: Ein junges Mädchen, das nur noch allein auf seinem Zimmer essen will, hat etwas zu verbergen.
Je früher eine Therapie einsetzt, desto besser stehen die Chancen auf Heilung. Allerdings können sich die Fronten zwischen Betroffenen und Außenstehenden schnell verhärten. Ein harsches Machtwort beim Abendbrot wirkt kontraproduktiv, sagt Manfred Fichter, denn Mahlzeiten sind für Magersüchtige Momente der Hochspannung: "Eltern sollten nicht mit ihren essgestörten Kindern beim Essen über das Essen reden! Das eskaliert regelmäßig. Es ist wichtig, einen Extratermin für ein solches Gespräch auszumachen."
Wer sich mit seinen Ängsten und Problemen ernst genommen fühlt, wird eher einwilligen, sich zumindest vom Arzt untersuchen zu lassen. Bevor eine Therapie begonnen wird, sollte der oder die Betroffene selbst entschieden haben, sich helfen zu lassen. Andrea B. tat das mit 20, nach einem ersten Besuch in der Klinik Roseneck. Schon länger hatten sich die Eltern und Martin, ihr Freund, große Sorgen gemacht. Seit sie 18 war, hatte Andrea dramatisch abgenommen. Auch wenn sie mit 20 immer noch nicht glauben wollte, ernsthaft krank zu sein, willigte sie ein, sich die Klinik zumindest anzusehen. Ein Gespräch mit einer jungen Ärztin brachte die Wende: "Die hat einen ganz wichtigen Satz zu mir gesagt: ‚Magersüchtige halten viel weniger von sich selbst als ihre Umgebung.‘" Auf der Heimfahrt kam Andrea ins Grübeln. Im August 2007 begann sie eine Therapie in Roseneck.
Eine Essstörung loszulassen heißt auch Abschied nehmen. Über die Jahre ist die Krankheit zum Teil der Persönlichkeit geworden. Man hat sich eingerichtet, zusammengelebt wie mit einer herrischen Freundin, sagen die, die es wissen müssen. Die Freundin weicht dir nicht von der Seite. Mischt sich dauernd ein. Dafür vertreibt sie miese Gedanken: Du hältst dich für die totale Versagerin? Hast panische Angst, anderen deine Gefühle zu zeigen? Geschenkt. Konzentrier dich auf deinen Körper. Das kannst du doch so gut. Wenn du schlank bist, wird alles gut.
Erstarrte Fassade knacken
Was gegen die Essstörung gerichtet ist, empfinden Patienten als Angriff auf ihre Person. Behutsam müssen Therapeuten versuchen, solches Denken zu knacken, die liebenswerte Person hinter der erstarrten Fassade wieder freizulegen.
"Die meiste Erfahrung hat man mit der kognitiven Verhaltenstherapie gesammelt", sagt Martina de Zwaan, Leiterin der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung am Uniklinikum Erlangen. Bei diesen Sitzungen geht es zunächst darum, wie der Patient über seine Essstörung denkt und was er dabei empfindet. Im nächsten Schritt analysieren Patient und Behandler kritisch, ob das eigene Denken eigentlich gerechtfertigt ist: "Bin ich vielleicht die Einzige, die glaubt, dass ich wertlos bin?" Außerdem wird nach Verhaltensalternativen für kritische Situationen gesucht. Neues Denken und Handeln üben die Patienten dann für den Alltag ein, etwa in Rollenspielen.
Wer zunimmt, bekommt mehr Freiheit
Fortschritte werden belohnt: Wer regelmäßig isst oder planmäßig zunimmt, dem wird in der Klinik mehr Selbstständigkeit zugestanden. Müssen die Patienten anfangs noch mit einem Therapeuten am Tisch zugeteilte Portionen essen, dürfen sie sich später selbst bedienen. Wer planmäßig zunimmt, darf die Klinik für ein paar Stunden verlassen oder wieder einem Hobby nachgehen.
Medikamente können eine Psychotherapie nur begleiten oder unterstützen. Als alleinige Behandlung von Essstörungen richten sie wenig aus. In Studien wurden diverse Psychopharmaka getestet, vor allem Antidepressiva. Dabei erwies sich der Wirkstoff Fluoxetin als besonders wirksam - zumindest gegen die Symptome einer Bulimie oder Binge-Eating-Störung. Essattacken und Erbrechen wurden unter Fluoxetin-Einnahme deutlich seltener.
Gegen Magersucht gibt es dagegen bis heute kein wirksames Präparat, sagt Martina de Zwaan: "Man hat schon alles Mögliche probiert, aber bisher ist das ernüchternd." Einigen Untersuchungen zufolge kann Fluoxetin Magersüchtige nach einer Therapie zumindest vor Rückfällen bewahren. Aber auch hier sind die Ergebnisse noch widersprüchlich.
Therapie mit der Familie
Dagegen findet seit einigen Jahren ein Ansatz immer mehr Beachtung, bei dem die Patienten zusammen mit ihrem Umfeld behandelt werden: Stärker als früher wird dabei die Familie in die Therapie einbezogen. Im gemeinsamen Gespräch mit Kindern und Eltern versuchen Therapeuten zu verstehen, welche Konflikte womöglich zur Entstehung einer Essstörung beigetragen haben. Und suchen nach Auswegen für verfahrene Situationen zu Hause.
Dabei müssen die Fachleute Eltern beruhigen, die glauben, in der Erziehung ihrer Kinder alles falsch gemacht zu haben: "Mit Schuldzuweisungen kommt man in der Therapie nicht weiter", sagt Manfred Fichter. "Im ersten Gespräch sage ich immer: Ich gehe davon aus, dass Sie Ihr Kind nach bestem Wissen und Gewissen großgezogen haben. Und dann nicken meist alle." Eltern wie Kinder.
Bei essgestörten Erwachsenen geben eher Freunde oder der Partner wertvolle Anstöße für die Therapie. Manchmal können die sogar eine Wende herbeiführen. Andrea B. erlebte, wie ihr Freund Martin sie stützte, als sie nach Roseneck ging. Dreimal pro Woche telefonierten die beiden lange miteinander. Und jedes Wochenende setzte Martin sich in Regensburg in den Zug, um seine Freundin am Chiemsee zu besuchen.
Im Begriff, alles wegzuwerfen
Er brachte Fotos mit: von Andrea und sich, lachend mit Freunden, auf Partys, im Urlaub. Andrea wurde nach und nach klar, dass sie im Begriff gewesen war, alles wegzuwerfen. "Ich dachte, wenn du es wieder so schön haben willst wie früher, musst du dich jetzt endlich zusammenreißen." Erst da sprach sie in der Psychotherapie über ihre Ängste. Auf der Waage ging es langsam aufwärts.
Ob Patienten auf Dauer ein normales Essverhalten entwickeln, hängt davon ab, wie gut die Nachsorge funktioniert. In der Regel wird empfohlen, im Anschluss an einen Klinikaufenthalt weiter eine Psychotherapie zu besuchen. Die Realität sieht oft anders aus, sagt Martina de Zwaan: "Bei der ambulanten Nachsorge ist das Angebot sehr lückenhaft. Oft müssen Essgestörte monatelang auf einen Therapieplatz warten." Da komme es schnell zum "Drehtüreffekt" - die Patienten landen mit einem Rückfall wieder in der Klinik.
De Zwaan ist Sprecherin von Ednet, einem Forschungsverbund für Essstörungen. Über das Netzwerk werden verschiedene Therapiestudien für Magersucht und Bulimie angeschoben. Dabei soll auch untersucht werden, wie sich Rückfälle von Patienten in der Warteschleife verhindern lassen - etwa über regelmäßigen E-Mailund SMS-Kontakt zu Betreuern. Betroffene können sich über Ednet für Studien anmelden.
Andrea B. wurde kurz vor Weihnachten aus Roseneck entlassen. Ihre Zukunft sieht sie optimistisch: Im April will sie ihr Jurastudium wieder aufnehmen. Vielleicht mit Martin zusammenziehen. "Ich bin froh, dass ich wieder zu Hause bin und fühle mich im Moment ganz gut damit. Aber ich weiß, dass ich Hilfe brauchen werde."