Herr Kroll, wir fühlen uns gerade wie in einer Krisen-Dauerschleife: Klimakatastrophe, Ukrainekrieg, Energiekrise – und von den Folgen der Corona-Pandemie haben wir uns auch noch nicht erholt. Sie und andere Experten sprechen sogar von einer "Polykrise". Gibt es wirklich mehr Krisen als früher?
Ich würde eher sagen: Es gibt auf jeden Fall Gründe für dieses Krisengefühl, das viele Menschen gerade so belastet. Kriege und bewaffnete Konflikte haben tatsächlich wieder zugenommen: Schaut man sich die Opferzahlen der weltweiten Konflikte an, haben wir aktuell die höchsten Zahlen seit den 1990er Jahren – das war die Zeit des großen Völkermordes in Ruanda. Interessant ist aber: Damals war der Begriff der Krise bei weitem nicht so omnipräsent wie heute.
Woran liegt das? Belasten uns die Krisen von heute mehr?
Die direkte Betroffenheit ist in der Tat größer. In der Coronazeit wurden Schulen geschlossen, Menschen haben ihr Einkommen verloren, der Ukrainekrieg hat eine Energiekrise ausgelöst. Das ist tatsächlich eine neue Qualität. Hinzu kommt, dass Bedrohungen wie die Klimakrise als existentiell wahrgenommen werden.

Wann sprechen Sie als Sozialwissenschaftler eigentlich von "Krise"?
Bei einer Krise wirken drei Faktoren zusammen: Wir erleben eine neue Bedrohung mit unmittelbaren Handlungsdruck. Dazu kommt große Unsicherheit, wie wir mit der Bedrohung umgehen sollen, weil die Routinen, die wir bisher hatten, nicht mehr greifen. Hinzu kommt noch etwas: eine allgemein geteilte Wahrnehmung, dass diese Bedrohungslage tatsächlich eine Krise ist. Ein gutes Beispiel ist der Klimawandel: Lange Zeit begegnete uns der vor allem über die Warnungen von Experten, aber nicht vor der eigenen Haustür. Deshalb gab es lange keine allgemeine Wahrnehmung einer Klimakrise – und wenig Handlungsdruck. Das ist heute völlig anders …