Er erkannte nicht einmal seine Eltern Max verliert bei einem Sturz sein Gedächtnis - und erfindet sich wieder neu

Von Lisa Rüffer
"Ich war wie ein Gast in einer fremden Familie"
"Ich war wie ein Gast in einer fremden Familie"
© Tim Marshall/Unsplash
Vor neun Jahren verliert der Auszubildende Max Rinneberg bei einem Sturz sein Gedächtnis. Er kann sprechen, lesen, schreiben. Aber erkennt niemanden von früher, nicht mal sich selbst im Spiegel oder seine Eltern. Und dann? Erfindet Max sich langsam neu.

Der folgende Text stammt aus dem neuen Magazin "Cord", das ab dem 28.11. erhältlich ist.

Meine erste Erinnerung ist das Aufwachen im Krankenhaus. Ich nehme meinen Körper wahr, wie er atmet, wie sein Herz schlägt, dass er in einem Bett liegt. Das Bett ist weich. Dann erst kommt mir die Frage in den Sinn, wer das ist, der das fühlt.

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© Georg Rinneberg/Patmos Verlag

Max Rinneberg hat ein Buch über sein Schicksal geschrieben: "Du wachst auf, und dein Leben ist weg - die Geschichte eines Gedächtnisverlustes", erschienen im Patmos-Verlag

An einem Samstag Ende Oktober 2008 wacht der 17-jährige Max Rinneberg mit einer Gehirnerschütterung und einer Platzwunde am Kinn im Krankenhaus auf. Er erfährt, dass er sich am Abend zuvor mit Freunden getroffen hat und dann von der Gruppe wegging, um zu telefonieren. Als er nicht wiederkam, haben ihn seine Freunde benommen auf dem Kirchplatz liegend gefunden. Er weiß davon nichts mehr. Als seine Mutter ins Krankenzimmer kommt, sagt Max freundlich Hallo und fragt, wer sie sei. Max kann sich an sein komplettes vergangenes Leben nicht erinnern. Er hat seinen Namen vergessen und sein Lieblingsessen. Er weiß auch nicht, wer der Typ im Spiegel ist. Die Ärzte sagen beruhigend: "Dissoziative retrograde Amnesie bis zur Geburt aufgrund des Schocks. Das kommt schon wieder." Aber die Ärzte irren sich. Es kommt nichts zurück bis auf einen Flashback, in dem Max sieht, wie er auf dem herbstnassen Kirchplatz von Kleinostheim stolpert und auf die oberste der drei Stufen fällt, die von dort zur Straße hinaufgehen.

Kein Alltag, keine Struktur

Nach meinem Unfall habe ich mich wie ein einsamer Wolf gefühlt. Ich war allein, obwohl meine Eltern und meine Schwester für mich da waren. Ich konnte nicht fühlen, was Zuhause sein soll. Wo gehöre ich hin? Ich hatte keinen Alltag und keine Struktur. Wozu sollte ich morgens aufstehen?

Die Ärzte rieten mir, ich solle möglichst viele Reize setzen, damit die Erinnerung zurückkommt. Also habe ich meine Ausbildung zum Steuerfachangestellten weitergemacht und bin mit meinen Freunden auf den Fußballplatz. Aber das alles blieb mir fremd. Und dann kam Weihnachten. Ich war wie ein Gast in einer fremden Familie. So ging das nicht mehr. Ich hing in der Schwebe. Eine Kompassnadel, die sich nicht ausrichtet. Ich bekam Depressionen und hatte Selbstmordgedanken. In der psychosomatischen Reha-Klinik habe ich dann zum ersten Mal meine Familie vermisst. Heute weiß ich zwar, wo ich hingehöre. Aber eine Heimat habe ich noch nicht gefunden. Ich denke, Heimweh muss ein schönes Gefühl sein. Mir wurde klar, dass ich erst mal allein herausfinden muss, wer ich bin.

Das neue Männer-Magazin CORD erscheint am 28.11.2017, der Verkaufspreis liegt bei 8,50 Euro. Weitere Informationen gibt es hier: www.cord-magazin.de 
Das neue Männer-Magazin CORD erscheint am 28.11.2017, der Verkaufspreis liegt bei 8,50 Euro. Weitere Informationen gibt es hier: www.cord-magazin.de 
© Cord

Unser Hirn speichert Informationen in verschiedenen Bereichen des Langzeitgedächtnisses ab. Nach dem Sturz kann Max auf sein perzeptuelles und episodisches Gedächtnis nicht mehr zugreifen. Dort speichern wir biografische Erlebnisse (der erste Kuss) und bekannte Reize (Menschen, die uns schon einmal begegnet sind) ab. Auch Teile seines Wissenssystems sind weg. Das erklärt, warum er zwar noch lesen und schreiben kann, aber weder Englisch noch das kleine Einmaleins. Kommt die Erinnerung innerhalb von zwei Jahren nicht zurück, ist die retrograde Amnesie meist dauerhaft. Für die Betroffenen ist es ein langer Weg, sich ein neues Leben aufzubauen. Manche zerbrechen daran oder verlieren ihre Familie. Das sieht Max in der Selbsthilfegruppe, die er besucht. Er will es schaffen. Zwei Konstanten begleiten ihn dabei. Seine Familie und das Schreiben. Aus seinen Tagebüchern ist inzwischen ein Buch geworden.

Vergessen ist etwas anderes als Verdrängen

Oft sagen Leute zu mir: "Das müsste mir passieren. Ich würde auch gern vieles vergessen." Sie haben ein falsches Bild. Steckt jemand in einer Lebenskrise, träumt er vielleicht davon, alles hinter sich zu lassen. Aber das erfasst die Tragweite meiner Situation nicht. Ich habe mir mein neues Ich ja nicht ausgesucht.

Vergessen ist etwas ganz anderes als Verdrängen. Bei mir sind nicht nur die schlechten Erinnerungen weg, sondern auch die guten an meine Familie oder Urlaube. Doch auch die negativen Erfahrungen möchte ich heute nicht mehr loswerden. Nur wenn wir die annehmen und reflektieren, entwickeln wir uns weiter. Es hat allerdings lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass jeder Stolperstein im Leben eine Chance ist.

Ein Schlüsselerlebnis hatte ich in einer Therapiesitzung, in der wir mit Hypnose gearbeitet haben. Plötzlich stand ich in einem alten Kinosaal, nur lief kein Film. Da habe ich mich auf die Suche nach Filmdosen gemacht. Ich fand sie, und es stand sogar mein Name darauf. Ich habe sie geöffnet, aber die Dosen waren leer. Auf einmal wusste ich, dass da nichts mehr kommt. Das war fast eine erleichternde Erkenntnis. Jetzt konnte mein neues Leben losgehen. Mir tut es leid für meine Familie, dass ich nicht wieder der alte Max geworden bin. Meine Mutter hat heute zwei Söhne. Einer ist beim Unfall gestorben, einen zweiten hat sie an diesem Tag bekommen. Sie vermisst den alten Max, den disziplinierten Marathonläufer und Fußballtrainer.

Ich bin mit mir selbst noch nicht fertig.
Mir fehlt die Basis, um mir alte Fotos anzusehen.
Oder um Geschichten vom alten Max zu hören

Viele Charakterzüge, die mich heute ausmachen, gab es früher schon. Die müssen angeboren sein. Ich mache immer noch gern Pläne und setze sie strukturiert um. Meine Mutter sagt, das war schon immer so. Vielleicht hat sich ein Teil Prägung im Unterbewusstsein festgesetzt und ist noch da. Disziplin ist aber nicht mehr meine erste Eigenschaft, wenn ich mir das Chaos in meinem Zimmer ansehe.

Rund zwei Jahre nach seinem Unfall entscheidet sich Max für ein neues Leben. Es ist ein zweites Erwachsenwerden. Er macht eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann, wird dann Fliesenfachverkäufer und entdeckt schließlich die Gastronomie für sich. Als angehender Diplom-Sommelier arbeitet Max heute in Salzburg. Er ist in den neun Jahren, die seit dem Unfall vergangen sind, ein anderer geworden. Einer, der das Leben genießt, der leidenschaftlich Wein trinkt und Zigarre raucht. Auch einer, der Wert auf Äußeres legt und einen eigenen Stil pflegt. Er trägt gern Fliege, und Golf ist der einzige Sport, den er ernsthaft betreibt. Wenn er von dem disziplinierten Sportler spricht, der er gewesen sein soll, spricht er von einem Fremden.

Erst kam die Leere, dann war es vorbei

Wäre ich gern wieder der Alte? Ich kann mir das schwer vorstellen. Ich weiß auch nicht, ob ich den Sturz gern ungeschehen machen würde. Und wenn von heute auf morgen alles wieder da wäre, was würde sich dann in den Vordergrund drängen? Wäre ich wieder der Leistungssportler, der jeden Morgen um sieben aufsteht, oder würde ich abends weiterhin ein Glas Wein und eine Zigarre genießen und dem Leben seinen Lauf lassen? Verstehen würde ich den Fremden, der ich früher war, schon gern. Irgendwann mache ich mich aktiv auf die Suche. Im Moment passt es noch nicht.

Ich bin mit mir selbst noch nicht fertig. Mir fehlt die Basis, um alte Fotos anzusehen oder mir Geschichten vom alten Max erzählen zu lassen. Vielleicht ist die Zeit dafür reif, wenn ich angekommen bin. Wenn ich einen eigenen Ort habe, an dem ich mich wohlfühle. Und die passende Frau an meiner Seite. Die letzten Jahre waren lange Beziehungen kein Thema für mich. Natürlich hätte ich mir manchmal eine Freundin gewünscht, die länger an meiner Seite bleibt als ein paar Wochen. Doch wenn du nicht weißt, wer du bist, ist es schwer, sich auf andere einzulassen.

Das ist ein paar Mal schiefgegangen. Irgendwann entstand immer eine Leere, und dann war es vorbei. Mittlerweile kenne ich meine Ecken und Kanten gut genug, um über eine gemeinsame Zukunft mit einer Frau nachzudenken. Ich weiß jetzt besser, was ich geben kann und was ich will in einer Beziehung. Ich bin zwar einsam, aber gleichzeitig frei. Beides hängt zusammen. Man kann tun und lassen, worauf man Lust hat, und Entscheidungen nur für sich treffen. Die Einsamkeit zwingt einen dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das tut gut, aber es verlangt Mut und Kraft, sich darauf einzulassen.

"Das Leben ist nie fertig"

Lange galt das Ich in der Philosophie als innerster unergründlicher Kern des Menschen. Seele und Körper existierten demnach unabhängig voneinander. Heute sehen Bewusstseinsforscher wie der Philosoph Thomas Metzinger das anders. Das Ich ist kein Ding, sondern ein Prozess. Unser Gehirn konstruiert es permanent. Es ist formbar und passt sich an seine jeweilige Umgebung an. Vielleicht hängt die Sehnsucht der Menschen nach einer Reset-Taste für das eigene Leben damit zusammen. Weil es anstrengend und verunsichernd ist, sich ständig zu konstruieren.

Ich glaube, dass es möglich ist, ein anderer zu werden. Man muss loslassen lernen, und das Bauchgefühl muss stimmen. Das ist sicher nichts, was von heute auf morgen passiert.

Den passenden Rhythmus dafür kann einem keiner vorgeben. Dank meiner Geschichte habe ich keine Angst davor, nicht zu wissen, was kommt. Da bin ich unvoreingenommener als andere und denke auch weniger in Schubladen. Ich probiere Sachen einfach aus und verändere sie, wenn sie mir nicht passen. Das Leben ist nie fertig. Dieses Jahr werde ich 27. Wenn wir älter werden, geht uns die Freiheit verloren, im Moment zu sein. Ein Kind auf dem Spielplatz spielt gedankenlos, ohne Konsequenzen abzuwägen. Ich sage mir, ich darf das auch. Ich gehe Dinge bewusst naiv an. Diese Leichtigkeit meines neuen Ichs will ich mir erhalten. Das ist eine Chance, die der Sturz gebracht hat.

Der Text stammt aus dem neuen Magazin "Cord", das ab dem 28.11. erhältlich ist.

Das neue Männer-Magazin CORD erscheint am 28.11.2017, der Verkaufspreis liegt bei 8,50 Euro. Weitere Informationen gibt es hier: www.cord-magazin.de 
Das neue Männer-Magazin CORD erscheint am 28.11.2017, der Verkaufspreis liegt bei 8,50 Euro. Weitere Informationen gibt es hier: www.cord-magazin.de 
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