Das Foto zeigt den anderen Blick auf die Wirklichkeit, schmerzverzerrt und ungeschminkt. Mit gesenktem Kopf, angeschossen und blutverschmiert steigt Dschochar Zarnajew, den alle nur den "Boston-Bomber" nennen, kurz vor seiner Festnahme aus seinem letzten Versteck. Auf seiner Stirn prangt der Zielerfassungspunkt eines Präzisionsgewehrs. Das Bild zeigt keinen jungen Helden. Und schon gar keinen Märtyrer, der bereit ist für seine wahnsinnigen Ideen zu sterben, so wie vorher sein Bruder. Zarnajew hat aufgegeben, scheint nur noch froh, noch am Leben geblieben zu sein. Und wirkt damit auf dem Foto wie ein ganz gewöhnlicher Verbrecher.
Geschossen hat diese Aufnahme Sean Murphy, der die Festnahme Zarnajews mit der Kamera begleitet hat. Nu hat der Fotograf der Massachusetts State Police diese und andere Aufnahmen von jenem 19. April dem "Boston Magazine" zur Veröffentlichung überlassen. Murphy handelte dabei auf eigenen Faust, ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten. Der Grund: Murphy ärgerte sich maßlos über ein Titelbild des "Rolling Stone", das Zarnajew auf eine sehr wohlwollende Weise inszeniert. Dagegen will Murphy mit seinen Bildern "einen "Kontrapunkt setzten".
Tatsächlich sorgt der Titel der Musikzeitschrift seit seinem Erscheinen für Aufregung: Auf dem Cover wird der mutmaßliche Bombenleger, dem vorgeworfen wird, gemeinsam mit seinem Bruder drei Menschen getötet zu haben, dargestellt wie ein Pop-Star. Das Foto des jungen Mannes zerfließt vor Weichzeichner, der Blick ist verträumt, ein bisschen traurig, vom Titel blickt ein tragischer Rebell. Es ist ein Foto, wie geschaffen zur Ikone - und genau diese Glorifizierung ist es, die viele Menschen in aller Welt empört.
"Was 'Rolling Stone' gemacht hat, ist falsch"
"Das Cover des Magazins ist eine Beleidigung für jeden, der jemals eine Uniform getragen hat und für Familien, die einen Angehörigen im Dienst verloren haben", sagt Murphy gegenüber dem Boston Magazine. Und erklärt, warum ihm die Veröffentlichung der Bilder wichtig war: "Was 'Rolling Stone' gemacht hat, ist falsch. Dieser Typ ist böse. Meine Bilder zeigen den wahren Boston-Bomber – nicht jemanden, der gestriegelt für das Cover des Magazins posiert."
Als Fotograf weiß Murphy um die Macht der Bilder, wie sich mit ihnen das kollektive Gedächtnis beeinflussen lässt, und wie sich heutzutage mit ihnen Wirklichkeit schaffen lässt, und sei es auch nur eine subjektive. Für seine eigenmächtigen Versuch, den mutmaßlichen Mörder eben nicht in Heldenpose zu zeigen, hat Murphy viel Zuspruch in sozialen Medien wie Twitter bekommen. Seine Kollegen von der Dienststelle waren dagegen weniger freundlich: Für die unerlaubte Veröffentlichung der Fotos wurde Murphy vom Dienst suspendiert.