Das Gielgud-Theater im Londoner West End ist voller Teenager an diesem Abend, sehr nervöser, weiblicher Teenager um genauer zu sein. Sie wispern, einige suchen mit mitgebrachten Ferngläsern schon einmal die halbrunde Bühne mit den angedeuteten Pferdeboxen ab, um ihn ja nicht zu verpassen: Daniel Radcliffe, bisher besser bekannt als Harry Potter aus den Verfilmungen des erfolgreichsten Jugendbuches der Welt.
Auch als das Licht ausgeht, ebbt das Kichern und Flüstern nicht ab. Die Musik wird lauter, Pferde wiehern - und dann kommt er: mit nacktem Oberkörper steigt er auf die erhöhte Mitte der Theaterbühne, an den aufgehängten Pferdeköpfen aus Draht vorbei, breitet seine Arme aus und verschwindet wieder. Es herrscht angespannte Stille. Das Spiel kann beginnen.
Er sticht den Pferden die Augen aus
"Equus" ist ein Stück über die Fantasie-Welt eines unsicheren Teenagers, der sich aus dem puritanischen Christentum seiner Mutter, dem Hass seines Vaters auf alle Religionen und einer seltsam sexualisierten Faszination mit Pferden einen eigenen Gott schafft, "Equus". Einen Gott, dem er mit nächtlichen Reit-Ausflügen und langen Streicheleinheiten im örtlichen Pferdestall dient. Und der ihn schließlich so beherrscht, dass er glaubt, dieser Gott verurteile ihn, als er das erste Mal versucht, mit seiner Freundin im Stroh des Stalles Sex zu haben. Aus Scham und Verzweiflung sticht er den Pferden dort die Augen aus - und wird in die Psychiatrie gebracht, wo ein Arzt versucht, in seiner Lebensgeschichte die Gründe für seine Fantasie-Welt zu finden.
Daniel Radcliffe hat sich keine leichte Rolle ausgesucht für sein erstes Bühnenstück, das ihn weg führt von der Zauberwelt des Harry Potter. Doch er spielt den seltsamen jungen Mann mit großer Intensität. Und die vieldiskutierte Nacktszene, auf die sich die Teenager im Publikum schon vor Beginn des Stückes mit Ferngläsern vorbereiteten, integriert er ganz natürlich in sein Porträt eines verstörten Teenagers und dessen Anfall fast göttlicher Wut nach dem verunglückten Liebesakt. Radcliffe rast, springt und wütet nackt zwischen den Draht-Pferdeköpfen hin und her, sticht auf sie ein, rasend, bis er erschöpft niedersinkt.
Radcliffe schafft es, Harry Potter verschwinden zu lassen
Es war während der Szene kein Kichern zu hören, kein Flüstern und noch nicht einmal ein angespanntes Aufatmen. Radcliffe und seine Mit-Schauspieler schaffen es, im Laufe des Stückes Harry Potter verschwinden und den verstörten Hauptdarsteller des Stückes, Alan Strang, den Pferde-Fanatiker, aufstehen zu lassen. Ein genialer Schachzug für den jungen Schauspieler Radcliffe, dem viele schon vorausgesagt haben, er werde für ewig der Zauberer-Lehrling bleiben und mit noch nicht einmal 20 Jahren schon die beste Zeit seiner Karriere hinter sich haben.
Doch Radcliffe wehrt sich aktiv gegen das Schicksal eines Kinder-Stars. Schon in der Rolle des Harry Potter war das Wachsen in die Welt der Erwachsenen bereits angelegt. Die ganze Kinowelt hat Daniel Radcliffe alias Potter vom kleinen Jungen mit den runden Brillengläsern zum Teenager sich entwickeln sehen. Mit der Wahl seiner ersten Bühnenrolle scheint er jetzt endgültig klar machen zu wollen, dass er nicht zurückschreckt vor Herausforderungen - ob nackten oder anderen. Und da er dabei gleich schafft, seine Teenager-Fans zu atemlosen Zuschauern zu machen, scheint es, als ob er diesen Herausforderungen auch gewachsen ist.