Keine Zeit, jetzt über Bücher zu reden. Nicht jetzt, wo gerade die Stimme des Bank-
beamten durch den Kater-Kopfschmerz dringt und durchs Handy bohrende Fragen stellt: "Haben Sie gestern in dieser Bar wirklich 3000 Pfund ausgegeben? Hier ist jemand mit einem von Ihnen unterschriebenen Scheck." DBC Pierre schüttelt den Kopf, murmelt etwas von den supernetten Mädels, die gestern dabei waren, und seufzt dann ins Telefon: "Geben Sie ihm das Geld, verdammt, es wird schon stimmen." Dann blickt der Mann mit dem bürgerlichen Namen Peter Warren Finlay mit lichtscheuen Augen in die Runde - und erklärt erst mal seinen Spitznamen: Pierre hat ihn ein guter Freund getauft, und "DBC" bedeutet "dirty but clean". "Schmutzig" ist Ansichtssache, aber "drogenfrei"?
Soll er saufen, wie er mag. Immerhin hat sich DBC Pierre mit seinem Buch "Jesus von Texas" gleich in die Champagner-Etage hochgeschrieben, den bedeutendsten britischen Literaturpreis und 50 000 Pfund erhalten und mit seiner Dankesrede die Herzen berührt: "Freunde: Endlich kann ich meine Schulden zurückzahlen." Und das Buch? Ein Roman über Amerika, und dort kam es gar nicht gut an: "Eine Zusammenstellung aller Klischees, die man je über die USA und Texas im Speziellen gehört hat", schimpfte die "New York Times". Klar: Wer eine Satire drei Tage nach einem Schulmassaker beginnen lässt und dann die Hysterie von Medien und Bevölkerung verulkt, kann keine Freundlichkeiten erwarten.
Das mit den Klischees stimmt
, aber nur auf den ersten Blick: Die Frauen in Pierres Buch sind sämtlich schwerst übergewichtig, krachbunt gekleidet und träumen von gigantischen Kühlschränken. Das Epizentrum ihrer kleinen Stadt Martirio ist der Grillschuppen "Bar-B-Chew-Barn". Es wimmelt von vierschrötigen Polizisten, schießwütigen Bürgern und absurden Fernsehshows.
DBC wie "dirty but clean"
Trotzdem ist das Buch keine Hasstirade, sondern ein Trommelfeuer bizarrer Einfälle, geschrieben in einer Sprache, die mit ihrem Tempo, ihrem Witz, ihrer Härte die besten Gangsta-Rapper erblassen ließe. Hauptziel: die amerikanischen Medien, die, so Pierre, "im Auftrag der herrschenden Eliten Angst und Schrecken verbreiten". Dann die Todesstrafe: "Wussten Sie", Pierre inhaliert tief den Marlboro-Rauch, "dass in Louisiana einem Verurteilten die letzte Zigarette verweigert wurde, weil sie ungesund sei?"
Richtig bemerkenswert aber ist der Held, der durch die Geschichte irrlichtert: Vernon Little, 15, befreundet mit dem Massenmörder und - das wissen wir gleich am Anfang - komplett unschuldig. Dann aber beschwatzt ein angeblicher CNNReporter Vernons Mutter, bis sie selbst den Sohn belastet: "Halten Sie Vernon für unschuldig?" - "Ach, wissen Sie, schließlich werden auch Mörder von ihren Familien geliebt." Bald ist Vernon der Hauptverdächtige, der Journalist hat den Ort komplett verkabelt, inzwischen haben sich Zeugen gemeldet, die Vernon bei 34 weiteren Morden gesehen haben wollen. Der wird nun als zeitgemäßer Verbrecher wiedergeboren: ständig auf der Flucht und die, bitte, live im Fernsehen. Nach noch nicht mal 100 Seiten wissen wir, wer der wahre Jesus von Texas ist und in welch gierige, verlogene, manipulative Welt er geraten ist.
DBC Pierre bestreitet nicht
, hier auch eigene Gefühlslagen verarbeitet zu haben, sein Leben war bislang mindestens holprig. In Australien geboren, zog seine Familie nach Mexiko, der Vater sollte als Genetiker robuste Maissorten entwickeln: "Ich lebte in einer Enklave der Superreichen, hey, unsere Nachbarn hielten sich Königstiger!" Als Pierre 16 war, erkrankte der Vater und begab sich mitsamt der Mutter zur Therapie nach New York - der Teenager blieb zurück, versorgt mit Pool und Dienstmädchen: "Natürlich sind meine Freunde sofort bei mir eingezogen. Einer war Apothekersohn, also haben wir uns ein Drogen-Lexikon gekauft, uns die interessantesten ausgesucht und sie von der Apotheke liefern lassen - angefangen haben wir mit Ritalin." Die Party endete drei Jahre später, als der Vater starb.
Aus Pierre war derweil ein "multi-toxikoides, verwöhntes, ungebildetes Bürschchen" geworden. Dann wurde plötzlich der Peso um tausend Prozent abgewertet, die reiche Familie fiel ans untere Ende der sozialen Skala. Der junge Mann verkokste die nächsten Jahre den verbliebenen Familienbesitz: "Ich war wie ein Flugzeug außer Kontrolle: ständig zum Abheben bereit, ständig auf der Bremse, um die Landebahn noch zu schaffen. Manchmal habe ich den Fangzaun umgepflügt und das Dorf dahinter."
Auf dem Höhepunkt seiner Odyssee verkaufte Pierre unbemerkt das Landhaus seines besten Freundes - der Mann soll nun als Erster vom Preisgeld profitieren. Als Pierre schließlich in London merkte, dass "ich die wöchentlichen tausend Pfund für Koks nicht mehr aufbringen konnte", ging er in eine Drogenklinik. Und begann zu schreiben. Ein Buch, sein erstes. Über einen 15-Jährigen, der durch die Welt geknallt wird wie ein Squashball.
Und weil diese zerstörerische Passivität sich in Held und Autor findet, hat DBC Pierre ans Ende ein Stück Moral gesetzt: Vernon entkommt der finalen Giftspritze nur, indem er handelt, zum ersten Mal. Ähnlich wie der Autor: "Schreiben war meine letzte Chance." Und dabei hat Pierre entdeckt, dass er Menschen beobachten kann - wie diesen alten Mann: "Die Haut hängt ihm in kleinen Säcken vom Gesicht, als ob er Implantate aus Blei hat. Die Leute nennen so etwas Charakter. Es ist aber kein Charakter, es sind Gefühle, die man sieht. Wellen der Entäuschung und Traurigkeit, das ganze Leben kriegt man sie ab, und irgendwann bringt einen der allerkleinste Scheiß zum Heulen." Kein Zweifel: Pierre, ein Experte in Drogensucht und Lebensrausch, ist nun Profi auch im Schreiben.