Ben ist ein Held. "BenX" heißt er dann. Ein mächtiger Krieger ist er in "Archlord", einem Multiplayer-Online-Rollenspiel ist im Stil von "World of Warcraft". Von Norden nach Süden, von Osten nach Westen hat er die virtuelle Welt Chantra bereist, hat gewaltige Schlachten geschlagen, ist unzähligen Gefahren entkommen. Und sie war stets an seiner Seite: "Starlite", seine Heilerin, seine Freundin. "Ben X" ist ihr Held. Jeden Morgen von 5.45 Uhr bis 6.33 Uhr, vor der Schule.
Für den Rest des Tages ist Ben ein Verlierer. Der Unterrichtsstoff ist nicht das Problem. Die Hölle sind die anderen. Freunde hat der hoch aufgeschossene Junge keine, da sind höchstens ein, zwei Mitschüler und einige Lehrer, die ihn so nehmen, wie er ist: schweigsam, extrem verschlossen, irgendwie verstört. Ben hat das Aspergersyndrom, eine leichte Form des Autismus. Er spricht nur so viel wie nötig. Er kann den Alltag meistern, sofern dieser streng strukturiert ist. Er hasst jegliche Form von Körperkontakt, auch den seiner Mutter. Die Fein- und Grobheiten des menschlichen Umgangs sind ihm ein völliges Rätsel. Wirklich sicher fühlt sich der 17-Jährige nur in der Onlinewelt von "Archlord", wo ihm eine Horde Monster nicht annähernd so viel Schmerz zufügen kann wie ein paar Mitschüler in der Realität. Und so holt sich Ben in seiner Fantasie immer wieder Bilder aus dem Spiel vor sein geistiges Auge, um mit Alltagssituationen besser klar zu kommen. Das ist besonders dann notwendig, wenn Bogaert und Desmet mal wieder der Sinn nach einen "Scherz" steht. Die beiden Mitschüler sehen in dem bleichen, dünnen Jungen vor allem eines: ihr liebstes Opfer. Für "Ben X" wären sie nur zwei fette Trolle, die er mit dem Schwert ordentlich vermöbeln würde. Für Ben sind die beiden Heimsuchungen aus einer Welt, die er nicht versteht.
Ben ist scheitert an den Anforderungen der Umwelt. Er muss in seinem Inneren kämpfen, um die anderen zu verstehen und angemessene Reaktionen zu erzeugen. Dabei sehnt er sich nach der rettenden virtuellen Realität. Diese Turbulenzen sind das zentrale Drama des preisgekrönten belgischen Films "Ben X". Darum herum drapiert Regisseur Nic Balthazar topaktuelle Gesellschaftsthemen wie Gewalt an Schulen, Demütigungen per Internet ("Cyberbullying", "Happy Slapping") sowie die Verwerfungen, die Bens Andersartigkeit in seiner Familie angerichtet haben. Der Film hätte ein bleischwerer Problembatzen werden können. Doch durch geschickte inszenatorische Kniffe ist "Ben X" bei allem Drama schnell, mitreißend und spannend.
Hilfe aus der virtuellen Welt
Denn als die Quälereien der beiden Rüpel eine neue Qualität erreichen, tritt Bens "Archlord"-Freundin "Starlite" in sein reales Leben und hilft ihm, das "Endgame zu spielen", wie Ben sagt. Im Onlinerollenspiel ist das die finale große Schlacht gegen den schlimmsten aller Gegner. Die Vorahnung, wie dieses Finale aussehen könnte, versetzt den Zuschauer schon früh in Aufregung, schließlich hat jeder bestimmte Bilder von Dramen an Schulen vor Augen, sei es aus den Nachrichten oder aus Erzählungen von Kindern. Geschickt streut Balthazar außerdem dokumentarisch wirkende Interviewsequenzen vor allem mit Bens Mutter ein, die ihre Fassungslosigkeit angesichts noch nicht näher beschriebener Ereignisse zum Ausdruck bringen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf erhalten Bens verzweifelte Versuche, mit den Demütigungen umzugehen, noch mehr Dramatik. Dazu das fantastische Schauspiel des Ben-Darstellers Greg Timmermans - und dem Mitleiden des Zuschauers ist keine Grenze gesetzt.
"Machinima" im Realfilm
Interessant ist außerdem, wie das Onlinerollenspiel in den Film integriert wurde: "Archlord" existiert tatsächlich, es ist ein im Jahr 2006 von Codemasters veröffentlichtes Fantasyspiel, das nur online gespielt werden kann. Die Szenen, die in der "Archlord"-Welt spielen, wurden "vor Ort" aufgezeichnet: In der von tausenden Spielern bevölkerten virtuellen Welt wurden passende und gleichzeitig abgelegene Orte gesucht. Dort bewegten Spieler am PC die Figuren, einer steuerte außerdem mit der Maus den Blickwinkel - die Kamera. "Machinima" wird diese Art des Filmens mithilfe von Computerspielen genannt, sie ist inzwischen eine eigene Kunstform. Ihre Verbindung mit einem Realfilm ist neu und funktioniert in "Ben X" überraschend gut. Der Film bekommt so nicht nur eine eigenwillige Bildsprache, sondern zieht den Zuschauer noch mehr in Bens Welt - eine Welt, die viele nur vom Hörensagen kennen.
"Ben X" ist ein Film über das Anderssein und die Unfähigkeit der Gesellschaft, damit umzugehen. Und trotz seines eindeutigen Plädoyers für Toleranz achtet Balthazar sorgfältig auf Zwischentöne und vermeidet einfache Lösungen. Unverständlich, dass ein einzelner Kritiker schrieb, der Regisseur habe bei der Verfilmung seines eigenen Jugendbuches "Nichts war alles, was er sagte" den "pädagogischen Holzhammer" rausgeholt. Außerdem: Wenn die Zukunft des Schulfernsehens so aufwühlend und unterhaltend zugleich wäre, dann ist dagegen nichts einzuwenden.