"Standard Operating Procedure" bedeutet auf Deutsch soviel wie "Standardarbeitsanweisung". Ein ganz normales, legales Verhörverfahren kann nach Einstufung des amerikanischen Militärs beispielsweise so aussehen: Ein Mann steht auf einem wackeligen Karton. Er trägt eine schwarze Kutte mit Kapuze, die sein Gesicht verdeckt. Die Arme hält er seitlich ausgestreckt, in jeder Hand einen Draht. Er glaubt, die Drähte seien elektrisch geladen und eine Veränderung seiner Haltung führe zu einem Stromschlag. So steht er da. Und rührt sich nicht. Eine eindrucksvolle Pose für ein ausdrucksstarkes Foto. Das dachten sich im Herbst 2003 offenbar anwesende amerikanische Wärter im irakischen Gefängnis Abu Ghraib und drückten den Auslöser ihrer Digitalkamera. Das Bild ging schließlich um die Welt - und löste einen Skandal aus.
Dabei war hier nach Definition des US-Militärs keinesfalls Folter zu sehen. Genauso wenig wie auf den Fotos von irakischen Gefangenen, nackt angekettet an Bettgestelle oder Zellengitter, in schmerzhaft verrenkten Positionen, einen Frauenslip über Kopf und Gesicht gezogen. Das ist demnach alles noch legale Verhörmethode, ganz normales Vorgehen, im Militärjargon "Standard Operating Procedure" genannt, erklärt ein ehemaliger Ermittler des amerikanischen Militärs im gleichnamigen Dokumentarfilm des amerikanischen Regisseurs Errol Morris. Tagesgeschäft sozusagen, Standard eben.
Fotos bekommen im Film einen visuellen Stempel aufgedrückt
Die Bilder der nackten irakischen Gefangenen aufgetürmt zu einer Menschenpyramide in sexueller Pose oder angegriffen durch Militärhunde oder auf dem Boden liegend an einer Hundeleine gehalten, das wiederum seien "kriminelle Handlungen", erläutert der Militärexperte. Nach seiner Klassifizierung bekommen die Fotos im Film einen visuellen Stempel aufgedrückt: Einige werden als "Criminal Act" gekennzeichnet, viele lediglich als "Standard Operating Procedure". Unfassbar.
Worum geht es hier eigentlich? Der Film hat sich zur Aufgabe gemacht, der wahren Bedeutung dieser Fotos nachzuspüren und deren Hintergründe zu entlarven. Dabei kommen auch die Fotografen zu Wort: einfache amerikanische Soldaten, die ihren Gefängnisalltag mit der Digitalkamera festgehalten haben. Die sich für die Kameras breit grinsend, ihre Daumen triumphierend nach oben gestreckt vor erniedrigten, misshandelten und zu Tode gefolterten Irakern selbstbewusst in Szene setzen. Viele der sadistischen Szenen scheinen eigenes von ihnen für die Kamera arrangiert. Schuldig fühlen sich die Soldaten scheinbar nicht.
Sie halten sich für die Sündenböcke eines etablierten Systems
Ihre emotionslosen Kommentare sind schwerer zu ertragen als die grausamsten Bilder: "Wir haben die doch nicht einfach umgebracht, erschossen oder ausbluten lassen...", "Jetzt sitzt einer von uns für 10 Jahre im Gefängnis - wegen nichts...", "Du kannst im Gefängnis alles machen, Du darfst es nur nicht fotografieren! Das ist einfach dumm...", "Von den schlimmsten Sachen gibt es sowieso keine Fotos...", "Ich wollte doch immer nur ein netter Typ sein und mit niemandem anecken...", "Das war eben einfach normal...". So oder so ähnlich artikulieren die ehemaligen Gefängnisaufseher ihre ignoranten Ansichten gerade heraus in die Kamera, direkt ins Angesicht des Zuschauers.
Sie lassen keinen Zweifel daran: Sie halten sich für die Sündenböcke eines etablierten Systems. Anfangs seien sie geschockt oder irritiert gewesen über die Zustände in Abu Ghraib, erzählen einige der ehemaligen Soldaten. "Aber weil die gängigen Praktiken dort auch nicht verheimlicht wurden, dachte man auch nicht, dass es etwas Verbotenes war und hat sich schnell daran gewöhnt", erklärt ein anderer. Egal, ob von den Vorgesetzten wissentlich geduldet oder ausdrücklich gewünscht, viel gesprochen wurde darüber, laut den Soldaten, nicht. Das war die Normalität, darüber sind sie sich alle einige. Standard eben.
Der ganz normale Gefängnisalltag in Abu Ghraib
In eindringlichen Nachinszenierungen werden Demütigung und Folter im Film zum Leben erweckt. Grobkörnige Detailaufnahmen von zähnefletschenden Militärhunden, schreckensverzerrte Gefangenengesichter, bewegte Kamera, durchdringender Sound... Das steigert die Dynamik, wäre aber angesichts der Ausdrucksstärke der stummen Beweisfotos nicht nötig gewesen.
Auch die graphisch aufwendig erstellte Zeitleiste, in die die Fotos im Film immer wieder eingeordnet werden, soll in ihrer ausgefeilten Ästhetik etwas visualisieren, was sich durch die Bilder in Kombination mit den Interviews ohnehin immer deutlicher als Erkenntnis beim Zuschauer durchsetzt: Es geht hier nicht um Einzelfälle, um Ausnahmevergehen einiger weniger Soldaten - um "bad apples", wie die amerikanische Militärführung gerne sagt, also um ein paar "schwarze Schafe". Es geht hier um den ganz normalen Gefängnisalltag in Abu Ghraib, denn im "Kampf gegen den Terror" und auf der Jagd nach Saddam Hussein wuchsen offenbar die Grauzonen dessen, was bei Verhören erlaubt und was verboten war. Vieles davon im Schatten eines Begriffes: "Standard Operating Procedure".
Dass ihnen diese Normalität schließlich zum Verhängnis wurde, können die Gefängniswärter von damals heute noch nicht verstehen. Man habe schließlich den Befehl gehabt, die Gefangenen "weichzukochen", sagt eine der ehemaligen Aufseherinnen. Einige von ihnen wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Höhere Offiziere wurden jedoch nicht strafrechtlich belangt, heißt es im Film. Dass sie als einfache Soldaten für ein System zur Rechenschaft gezogen werden, das sie nicht selbst geschaffen, sondern "nur" getragen haben, erscheint ihnen ungerecht. Manche von ihnen ahnen, was dahinter steckt: Sie sind nicht in erster Linie für die Taten bestraft worden, die auf den Fotos zu sehen sind, sondern für deren Dokumentation durch ihre Kameras. Damit haben die Soldaten dem Image der USA erheblich geschadet. Jetzt müssen sie büßen.
Ihre Schuld wollen sie einfach weiterschieben
Der preisgekrönte Dokumentarfilmer Errol Morris hat darauf verzichtet, hochrangige US-Militärs oder amerikanische Regierungsmitglieder vor die Kamera zu holen. Auch ehemalige irakische Gefangene kommen in seinem Film nicht vor. Doch die Aussagen der einfachen Soldaten kommentieren sich quasi selbst: Sie zeigen keine Reue und erwecken beim Zuschauer daher auch kein Mitgefühl. Sie wollen ihre Schuld einfach weiterschieben.
Dennoch ist es erschreckend, dass für Behandlungen, die nach gesundem Menschenverstand wohl überwiegend als Folter eingestuft werden, nicht mehr direkt oder indirekt Beteiligte zur Rechenschaft gezogen werden. Aber um das, was vom US-Militär schlicht als "Standard Operating Procedure" bezeichnet wird, machen die USA kein unnötiges Aufhebens. Es ist ja ihrer Definition zufolge nichts besonderes. Keine Folter, sondern Standard.