Der ungewöhnlichste Film des Jahres wurde auch zum besten gewählt: "The Artist", ein Film fast ohne Worte, ohne bunte Farben, ohne Überwältigungseffekte, dafür voller Charme und beglückender Nostalgie. Angesichts von fünf Oscars für den Stummfilm aus Frankreich waren in der Nacht zum Montag sicher viele Hollywood-Mogule sprachlos. Schließlich hatte zuletzt im Jahr 1929 ein Stummfilm den "Goldjungen" als beste Produktion gewonnen. Überhaupt war es die Galashow Frankreichs in der Traumfabrik.
Fast schien es, als würden sich die Filmnationen USA und Frankreich in der "Nacht der Nächte" respektvoll voreinander verbeugen: "Ich danke Billy Wilder, ich danke Billy Wilder, ich danke Billy Wilder", rief der "Artist"-Regisseur Michel Hazanavicius. Denn er feiert in seinem Film die melodramatische Stummfilmzeit in den großen Hollywood-Studios, wie es schon Billy Wilder 1950 in seinem Meisterwerk "Sunset Boulevard" getan hat.
"The Artist" setzte sich gegen den großen Oscar-Konkurrenten "Hugo Cabret" durch. Dieser aufwändige 3D-Film von Martin Scorsese spielt wiederum im Paris der frühen 1930er Jahre. Der Titelheld Hugo liebt die Werke des französischen Kinopioniers Georges Méliès, vor allem dessen "Reise zum Mond". Auch das ist sehr nostalgisch. Doch das Wagnis eines wirklich altmodischen Stummfilms mit Charme und überraschenden Bildideen im Kontrast zu technisch übersättigten Produktionen scheint den Nerv der Zeit getroffen zu haben.
Das Flair von Frankreich und Paris
Denn auch wenn "The Artist" und "Hugo Cabret" viele Gemeinsamkeiten haben, so unterscheiden sie sich grundsätzlich: "Hugo" ist eine bombastische 3D-Produktion, die satte 170 Millionen Euro gekostet hat und jede Menge Spezialeffekte auffährt. Das Werk von Martin Scorsese ("Taxi Driver", "Casino", "Departed - Unter Feinden") gewann zwar auch fünf Oscars - allerdings nur in den Nebenkategorien. "The Artist", gedreht in den Paramount Studios in Los Angeles, hat schätzungsweise 15 Millionen gekostet, weniger als ein Zehntel von "Hugo Cabret".
Das Flair von Frankreich und Paris - auch ein anderer amerikanischer Oscar-Film bezieht seinen Reiz aus dem Blick auf das gute, alte Europa: Woody Allen hat den vierten Oscar seiner langen Karriere für das Drehbuch zu "Midnight in Paris" bekommen - und den Preis wieder einmal nicht persönlich abgeholt. Er dreht seine Filme schon seit Jahren fast nur noch in Europa (auch wegen der Filmförderung, die es so in den USA nicht gibt). In seinem jetzt prämierten Werk schickt er einen Amerikaner mitten ins hitzige Kulturleben von Paris in den 1930er Jahren.
Angesichts weiterer Kassenerfolge wie den derzeit mehr als fünf Millionen Besuchern für die französische Tragikomödie "Ziemlich beste Freunde" allein in Deutschland lassen die Filmschaffenden Frankreichs dieser Tage die Champagnerkorken poppen. Jean Dujardin, für seine Hauptrolle in "The Artist" als bester Darsteller gewürdigt und schon als "French Clooney" gefeiert, konnte das Glück kaum fassen. Er rang auf der altmodisch mit gemalten Vorhängen dekorierten Bühne nach Worten und rief: "Wow, das ist genial, merci, formidable!"