Album Nummer Zwei Jeremias über Panikattacken auf Tour, echte Freundschaft und schmachtende Fans

Jeremias, das sind Oliver Sparkuhle (Gitarre), Jonas Herrmann (Schlagzeug), Jeremias Heimbach (Gesang, Klavier) und Ben Hoffmann (Bass) v.l.
Jeremias, das sind Oliver Sparkuhle (Gitarre), Jonas Herrmann (Schlagzeug), Jeremias Heimbach (Gesang, Klavier) und Ben Hoffmann (Bass) v.l.
© Lucio Vignolo
Jeremias haben ein neues Album: "Von Wind und Anonymität". Ein Gespräch mit Sänger Jeremias Heimbach und Gitarrist Oliver Sparkuhle über ihre Tour, Literatur und die Frage, wer eigentlich diese Julia aus dem Song ist.

Man sagt oft, dass das zweite Album eine besondere Herausforderung ist. Hat sich das bei euch auch so angefühlt?
Oliver: Es gab definitiv Momente, in denen wir uns alle orientierungslos fühlten. Müssen wir uns an einen Plan halten? Würden wir uns wieder auf elf Songs einigen können, die uns allen gefallen? Wir haben dann aber gewagt, mehr zu experimentieren und so sind sogar 15 Songs entstanden. Viele davon spiegeln persönliche Erlebnisse, das Bandleben und die lange Zeit, in der wir auf Tour waren, wider.

Was sind eure Lieblingssongs auf dem Album?
Jeremias: Ich mag den Song "Egoist" sehr, weil er zeigt, dass wir auch anders klingen können. Da ist kein Schlagzeug drin, ich spiele Akustikgitarre und unser Drummer Jonas singt die zweite Stimme. Für mich ist das ein Beispiel dafür, wie wir als Band aus dem "Funk-Indie-Pop"-Rahmen ausbrechen können.

Oliver: Interessant ist, dass wir auf dem letzten Album alle den Song "Weniger" am liebsten mochten, jetzt hat jeder von uns einen anderen Lieblingssong. Bei mir ist es "Stille".

Wenn man sich die Kommentare auf eurem Instagram-Account ansieht, habt ihr viele Fans zum Hermann-Hesse-Lesen animiert. Der Song "Goldmund" bezieht sich auf "Narziß und Goldmund". Was macht für euch die Faszination dieser Geschichte aus?
Jeremias: Ich liebe die Klassiker. "Das Parfum" oder "Die Schachnovelle" – natürlich muss man auch etwas von Hesse gelesen haben. Das Lied habe ich im Lockdown geschrieben, als man nichts machen konnte, und es hat mich so gepackt, weil Goldmund so frei war. Mit dieser Figur konnte ich mich sehr identifizieren. Es ist großartig, wenn man sich durch Musik auf andere Kunstformen beziehen kann.

Ihr habt letztes Jahr in neun Monaten siebzig Konzerte gespielt und tausende Kilometer im Tourbus zurückgelegt. Wie war das für euch?
Jeremias: Als wir uns 2018 gegründet haben, wollten wir groß rauskommen und vor vielen Leuten spielen. Aber dann kam die Routine und die Rastlosigkeit. Wir haben unsere gemeinsamen Träume, die Leidenschaft und das Miteinander aus den Augen verloren. 2022 waren wir dann so weit, dass wir keine Lust mehr hatten, aufzutreten.

Während der Tour in Österreich hattest du plötzlich Panikattacken, Oliver. Willst du darüber sprechen?
Oliver: Es war ein Symptom von extremer Überforderung. Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich von vielen Leuten angestarrt werde. An einem Tag hält man das vielleicht nicht so gut aus, aber man muss trotzdem auf die Bühne. Auch wenn es oft magisch ist, live zu spielen, ist es psychisch und physisch sehr anstrengend, so lange auf Tour zu sein. Außerdem hat man wenig Privatsphäre, auch wenn man mit seinen besten Freunden unterwegs ist.

Was hat dir damals geholfen?
Oliver: Unsere Tourmanagerin hat mir Telefonnummern von Therapieangeboten besorgt. So konnte ich zwischen den Konzerten eine Therapie machen. Ich habe mich auch mit den anderen Bandmitgliedern ausgetauscht, unserem Schlagzeuger Jonas ging es kurzzeitig ähnlich. Die Gespräche haben mir sehr geholfen. Ich möchte meine Bekanntheit nutzen, um zur Enttabuisierung von Angst- und Panikstörungen beizutragen. Ich weiß, wie allein man sich damit fühlen kann. Natürlich war es auch schön, dass Jeremias das Lied "Da für dich" für mich geschrieben hat. Diese Geste hat unsere Liebe und Freundschaft noch einmal gestärkt.

Was macht ihr eigentlich, wenn ihr nicht auf Tour oder im Studio seid?
Jeremias: Das klingt jetzt vielleicht für einige erschreckend, weil es wieder mit Musik zu tun hat. Aber mein größtes Hobby ist es, im Studio Musik zu machen, die nirgendwo hinwill, die zu nichts passen muss, die niemandem etwas bedeuten muss, nicht mal mir selbst.

Oliver: Bei mir ist das ganz ähnlich. Da Jeremias in Berlin wohnt und wir anderen in Hannover, haben wir unabhängig voneinander Räume, in denen man proben kann.

Wie kann man sich eure Proben in der Praxis vorstellen?
Jeremias: Wir treffen uns alle zwei Wochen in einem gemeinsamen Proberaum in Hannover. Ich schreibe die Songs am Klavier und habe meistens schon eine grobe Vorstellung von einem Song, erste Harmonien. Die anderen sorgen dafür, dass aus dem Skelett ein Körper wird, der Muskeln, Blut und Sehnen bekommt. Manchmal sind die anderen von einer Idee begeistert, manchmal nicht. Ich schreibe neun Songs, bis vielleicht der zehnte auf die Platte kommt. Aber ich mache nichts anderes – das ist mein Beruf, dieses Privileg habe ich Gott sei Dank.

Eure Fans lieben euch nicht nur wegen eurer Musik. Ihr seid auch Projektionsfläche für Schwärmereien, erhaltet täglich Nachrichten in den sozialen Medien und einige Fans reisen euch sogar hinterher. Wie fühlt sich das für euch an?
Oliver: Das kann man nicht leugnen. Viele Leute haben vielleicht das Gefühl, dass sie uns kennen, aber das ist nur ein oberflächlicher Teil von uns. Sie kennen einen Teil von uns durch die Musik, die durch uns durchstrahlt, aber sie wissen nicht, wie wir privat wirklich sind. Wenn ich nur der Olli bin, der zum Rewe geht und Fertigtortellini kauft, dann himmelt mich keiner an.

Zum Schluss noch eine Frage: Wer ist eigentlich Julia?
Jeremias: Das bleibt sicher unser Geheimnis. Jede Person, die Julia sein will, kann Julia sein.

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