Annie Lennox Schön tief blicken lassen

Sie wollte Mutter sein und nie zurück ins Pop-Geschäft. Zum Glück hat Annie Lennox es sich anders überlegt. Auf ihrem Album "Bare" zeigt sie Mut zur Blöße.

Annie Lennox strippt. Jeden Abend, bei jedem ihrer Konzerte. Nach drei Liedern nimmt sie die Sonnenbrille ab, nach zwei weiteren wirft sie die Wollmütze fort, pellt sich aus der Jeansjacke, bis die große, schlanke Frau nur noch in schwarzer Hose und Träger-Top auf der Bühne steht. Die Leinwand hinter ihr zeigt Fotos, die sie vor kurzem mit einem Freund, dem Künstler Allan Martin, von sich gemacht hat: Annie Lennox ungeschminkt und nackt. Während der Tournee zu ihrem neuen Soloalbum "Bare" ("Entblößt"), das am 10. Juni herauskommt, zeigt die Sängerin der Eurythmics ein Stück Körper und sehr viel Seele.

"Bare" handelt von Trauer, Einsamkeit und Angst

Sie habe wieder angefangen, Lieder zu schreiben, als ihre Ehe mit dem israelischen Dokumentarfilmer Uri Fruchtmann zerbrach, sagt Lennox. Das war vor vier Jahren. "Bare" erzählt von Trauer, Einsamkeit und Angst. "Mit diesem Album habe ich eine Zeit abgeschlossen, in der ich sehr verletzt und depressiv war. Eigentlich gehört es mehr in die Selbsthilfe-Ecke als ins Regal für Popmusik." Verletzlich zeigt sie sich auch in den Selbstporträts. Auf einem trägt die 48-Jährige nichts außer einem Hundehalsband. Seht her - das bin ich: keine 20 mehr, erfahrener und selbstsicherer. "Wenn Frauen älter werden, werden sie ausrangiert, als wären sie nichts mehr wert. Das will ich mit diesen Bildern ändern."

Früher spielte sie mit Maskerade

Vielleicht ist sie auch nur die Maskerade des Musikgeschäfts leid, in dem sie schon "eine Menge Scheiße" erfahren hat. Früher spielte sie gern mit Verkleidungen. Zur Grammy-Verleihung kam sie im Elvis-Kostüm, als Eurythmics-Sängerin zog sie Sadomaso-Klamotten aus dem Sexshop an. Das Gesicht weiß geschminkt, die raspelkurzen Haare erst leuchtend orange, dann weißblond gefärbt. Androgyn gab sich Lennox in den Achtzigern. Der Sender MTV soll einmal ihre Geburtsurkunde verlangt haben, um sich zu vergewissern, dass sie eine Frau ist.

Der Ruhm machte sie einsam

"Ich sehe mich nicht als Star", sagt sie, "ich bin nicht Madonna. Und ich lasse mich nicht von Versace sponsern." Sie fühle sich frei wie nie, sagt Lennox beim Interview, müde von den Auftritten, die sie seit fast zwei Monaten gibt. Diese Wahnsinnsstimme, mit der sie jammert, stöhnt und schreit, klingt jetzt dunkel und weich. Sie hat die Socken ausgezogen und Räucherstäbchen angezündet. Sie hat im Tourbus schlecht geschlafen, doch sie versteckt die Augenringe nicht unter Make-up, trägt Jeans und T-Shirt. So stellt man sich nicht die Frau vor, die geschätzte 30 Millionen Pfund besitzt und seit "Diva", ihrem ersten Soloalbum, zwölf Millionen Platten verkauft hat. Von Ruhm will sie nichts hören. Er habe sie einsam gemacht. Deshalb kündigte sie Ende der Achtziger an, sie wolle ab jetzt nur Hausfrau und Mutter sein, sonst nichts.

"Hurting Time" fasst die schwersten Momente zusammen

Die Töchter Lola und Tali sind heute zwölf und zehn Jahre alt, und ganz ohne Musik hat Annie Lennox es dann doch nicht ausgehalten. "Bare" ist ein Pop-Album, doch mit dem Synthi-Sound von früher hat es wenig gemein. Ihre Soul-Stimme füllt die nachdenklichen Texte mit trauriger Sehnsucht. Das Lied "The Hurting Time" fasst die schweren Momente ihres Lebens zusammen. Der schlimmste davon war 1988, als sie ihr erstes Kind bekommt. Sie hat dem Jungen schon einen Namen gegeben, Daniel, doch er kommt tot zur Welt.

Zum ersten Mal steht sie auf eigenen Füßen

Nach all den Jahren im Musikgeschäft stehe sie zum ersten Mal auf eigenen Füßen, sagt Lennox. Sie könnte an ihrer nächsten Soloplatte arbeiten oder mit Dave Stewart die Eurythmics wieder aufleben lassen. "Vielleicht fotografiere ich auch nur noch", sagt sie. "Das größte Geschenk, das mir je gegeben wurde, ist, dass ich jetzt tun kann, wonach mir ist. Das ist wunderbar. Und ich habe es verdient."

Silvia Tyburski

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