"18 Besucher von Sanitätern versorgt", so lautete kürzlich eine News-Schlagzeile. Die Meldung handelte aber nicht vom Oktoberfest oder einem anderen Gelage, sondern von der Aufführung des Stückes "Sancta" an Ihrem Haus. Geht es in der Stuttgarter Staatsoper zu wie auf einem Volksfest, das außer Kontrolle geraten ist?
Es gab bei uns keinen Kontrollverlust, ansonsten stimmt der Vergleich. Wenn Sie auf ein Volksfest gehen und Karussell fahren, kann Ihnen schwindelig werden. Sie wissen aber vorher um das Risiko. Wir haben vor der Aufführung von "Sancta" wahnsinnig viel Aufklärungsarbeit geleistet und darauf hingewiesen, dass das Stück schockierend wirken kann auf manche Besucherinnen und Besucher.
Dennoch: Ärztliche Versorgung nach Opern-Aufführung, das klingt verstörend.
Wir sind auf solche Fälle aber grundsätzlich gut vorbereitet. Das Opernpublikum ist ein eher älteres. Da kann es auch bei einer sechsstündigen Wagner-Oper Vorfälle geben. Unsere Lüftungsanlage ist veraltet, und wenn dann 1400 Leute im Saal sitzen, wird es schon mal stickig. Wir sind darauf eingerichtet und haben bei jeder Aufführung Ärzte vor Ort.
Bei "Sancta" war aber dem Vernehmen nach nicht die Luftqualität das Problem, sondern die explizite Darstellung von sexuellen Handlungen und Gewalt. Es sind Verwundungen zu sehen und echtes Blut. Was sagen Sie Besucherinnen und Besuchern, die sich davon überfordert fühlen?
Dass ich sie verstehen kann. Das Stück geht an genau zwei Stellen an Grenzen. Aber jetzt aus "Sancta" eine Skandaloper machen zu wollen, finde ich nicht in Ordnung. "Sancta" ist eine gigantische Show, mitreißend, unterhaltend, es wird Rollschuh gefahren, die Musik ist großartig. Es steckt viel Monty Python und Sister Act drin – all das darf man nicht unterschlagen. Man würde dem Stück unrecht tun.

Das Theater ist ein Ort lebhafter Auseinandersetzung
Aber die extremen Szenen sind jene, über die jetzt auch außerhalb der Theaterwelt diskutiert wird.
Es sind zwei Mal drei Minuten, die irritieren können. Bei einer Kreuzigungsszene wird eine Piercingkünstlerin an ihrer Haut in die Luft gezogen. Bei einer anderen geht es um das Glaubensbekenntnis, um eine Anspielung auf den Heiligen Thomas, der seinen Finger in die Wunde legen will. Dazu wird einer Künstlerin ein kleiner Schnitt zugefügt. Das sind die beiden Szenen, wo einige Leute rausgegangen sind.

Die Choreografin Florentina Holzinger ist für ihre drastischen Inszenierungen bekannt. Was hat Sie bewogen, "Sancta" nach Stuttgart zu holen?
Das Stück hat eine Stuttgarter Vergangenheit. Der Komponist Paul Hindemith wollte 1921 die Oper "Sancta Susanna" gemeinsam mit dem Künstler Oskar Schlemmer, einem gebürtigen Stuttgarter, in dessen Heimatstadt zur Uraufführung bringen. Zehn Tage vor der Premiere hat der Dirigent das ganze Projekt gekippt, weil es ihm, wie er sagte, zu blasphemisch sei. Es wurde dann zwei Jahre später in Frankfurt uraufgeführt und ging dann an die Mailänder Scala und die New Yorker Met. Das Stück war überall zu Hause – nur nicht in Stuttgart. Das wollten Florentina und ich ändern.
Das ist Ihnen gelungen – mit einem Theaterdonner, der im ganzen Land zu vernehmen ist. War es eine kalkulierte Provokation?
Gegenfrage: Funktioniert das überhaupt heute noch, mit dem Theater Tabus zu brechen? Es war doch alles irgendwann schon mal da. Theater hat als Ort der lebhaften Auseinandersetzung eine lange Tradition.
Es geht um die innere Reinigung von Wut
Wozu dann diese Sex- und Gewaltszenen?
Florentina Holzinger ist eine der friedfertigsten und liebenswertesten Personen, die ich kenne – backstage jedenfalls. Aber auf der Bühne, da ist sie voller Wut. Sie hat einen wahnsinnigen Furor, wenn es um Themen wie die sexuelle Unterdrückung der Frau geht. Wut ist kennzeichnend für unsere Zeit. Erst gab es den Wutbürger, jetzt gibt es Wutpolitik. Bei Florentina geht es um Katharsis, um eine innere Reinigung von der Wut. Das ist wie mit Punkmusik. Die Goldenen Zitronen wollen ja auch nicht ihr Publikum aufmischen, die wollen einfach ihre Empörung rausschreien.
Am 26. Oktober findet die nächste Aufführung von "Sancta" statt. Nach der Erfahrung der ersten beiden Shows mit 18 behandlungsbedürftigen Theatergängern: Werden Sie etwas ändern?
Auf keinen Fall, wir tasten das Stück nicht an. Es ist ein Riesenerfolg. Auf eventuelle Notfälle sind wir eingerichtet.