"Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz" Im Zweifel alles Opfer

  • von Holger Witzel
Die ARD spielt den Fall Harry Wörz nach. Der Film ist so einseitig wie die Justiz lange gegen den Bauzeichner vorging. Gerechtigkeit gibt es trotzdem nicht.
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Die unglaubliche Geschichte eines Justizirrtums

Was wird wohl der Täter heute Abend machen? Sieht er fern oder hat er Dienst? Isst er Salzstangen dazu oder wird ihm übel davon? Saß er womöglich schon in einer Voraufführung oder hat er die Geschichte so weit verdrängt, dass er auch einen Lügendetektortest bestehen würde?

In dem Spielfilm "Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz" (20.15 Uhr, ARD) ist das eine Schlüsselszene: Der Häftling Wörz sitzt Professor Udo Undeutsch gegenüber, einer Koryphäe dieser in Deutschland umstrittenen Methode der Wahrheitsfindung. Wörz zittert und bebt. Endlich fragt mal jemand, ob er etwas mit der Tat zu tun habe. Nach einer langen Pause und inbrünstig, wie es nur Unschuldige können, sagt er: Nein. Laut Lügendetektor ist das die Wahrheit.

Der greise Psychologie-Professor soll angesichts der ungewöhnlich hohen Punktzahl seines Probanden damals richtig aus dem Häuschen gewesen sein. Eine Zivilkammer am Landgericht Karlsruhe kommt im April 2001 trotzdem ohne sein Gutachten aus – und "nicht zu der sicheren Überzeugung", dass es tatsächlich Harry Wörz war, der seine Ex-Frau in der Nacht zum 29. April 1997 solange mit einem Kinderschal würgte, bis ihr Gehirn für immer geschädigt blieb.

Neue Zeugen, neue Hinweise

Drei Jahre zuvor hatte eine Schwurgerichtskammer am gleichen Gericht seine Schuld noch "zweifelsfrei" festgestellt und Harry Wörz für den versuchten Totschlag zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Fall, zwei gegenteilige Urteile, beide rechtskräftig an einem Landgericht - nur Juristen fanden das normal: Zivil- und Strafrecht, Äpfel und Birnen. Die Eltern des Opfers hatten Wörz, nachdem der Bundesgerichtshof das Strafurteil bestätigt hatte, auf Schadenersatz und Schmerzensgeld verklagt. Das war sein Glück: Plötzlich tauchten neue Zeugen und erste Hinweise auf selektive Ermittlungen auf. Trotzdem dauerte es danach noch einmal fast zehn Jahre und zwei neue Strafprozesse jeweils bis zum BGH hinauf, bevor Harry Wörz 2010 rechtskräftig freigesprochen wurde. Nur: Was heißt das schon? Vorher war er genauso rechtskräftig schuldig und hat bis heute 17 Jahre seines Lebens damit zugebracht, seine Unschuld zu beteuern, davon vier Jahre im Gefängnis.

Der Spielfilm will Harry Wörz gerecht werden, nicht dem Fall. Daraus macht Ko-Autor und Regisseur Till Endemann keinen Hehl: Es sei "auch ein Film für ihn". Rüdiger Klink in der Hauptrolle stellt Wörz mit seinem ängstlichen Trotz bis hin zum Dialekt am nördlichen Rand des Schwarzwaldes so echt dar, dass man sich manchmal Untertitel wünscht. Aber das macht die Figur nur noch glaubwürdiger: So ein schlichter Kerl kann sich scheinbar nicht verstellen. Er kann ja nicht mal hochdeutsch. So einer kann nur unschuldig sein.

Ein Film braucht diese Eindeutigkeit vielleicht. Mich stört und beschämt sie wohl auch ein wenig, nachdem ich mich mit einem Kollegen für den stern auch ein paar Jahre mit dem Fall beschäftigt habe. Davon abgesehen, dass Journalisten ohnehin kein abschließendes Urteil zusteht, fiel es mir trotz aller Zweifel und Ungereimtheiten immer schwer, mich auf seine Unschuld festzulegen. Das ändert nichts daran, dass Wörz zu Unrecht verurteilt wurde. Recht und Gerechtigkeit - das vor allem macht dieser Fall beängstigend klar - sind vermutlich viel seltener das Gleiche, als der Rechtsstaat suggeriert.

Entlastende Indizien verschwanden

Auch wir haben alle Akten gelesen, die der echte Harry wie im Film mit der Hand abschrieb. Wir haben ihn noch im Knast besucht, wo ihn die alle nur "Gottes Geisel" nannten. Es war nicht nur Spott: Die anderen Häftlinge verstanden einfach nicht, warum einer immer noch "bei Gott" seine Unschuld beteuert, wenn er mit etwas Tateinsicht und guter Führung fast wieder raus gewesen wäre. Wir haben auch seine schwerbehinderte Frau bei ihren Eltern besucht, die sich liebevoll um sie und ihren Enkel kümmerten. Aber wir haben uns auch immer gestritten, ob es Harry Wörz nicht vielleicht doch war - und wenn nicht, wer dann?

Die beiden anderen Verdächtigen - der damalige Liebhaber des Opfers und ihr Vater - waren so offensichtlich und schnell darüber erhaben, dass eine Verschwörung gegen Wörz fast zu nahe lag. Alle außer ihm waren Polizisten in Pforzheim. Auch seine Ex-Frau, die im Film Silke genannt wird und schon ein Jahr von ihm getrennt lebte. Die Scheidung stand an, Streit um Sorgerecht und Umgang mit dem gemeinsamen Sohn drohte. Aber auch ihr Verhältnis zu ihrem Liebhaber war zur Tatzeit angespannt. Alle Angaben vom Tatort stammen von ihrem Vater, entlastende Indizien verschwanden. Pforzheimer Polizisten, so lasen sich die Akten immer, ermittelten nach den Verdächtigungen eines Pforzheimer Polizisten vor allem die Unschuld von Pforzheimer Polizisten.

Auf der anderen Seite legte Harry Wörz in den zermürbenden Verhören immerhin ein Geständnis ab, das er später widerrief und auf den manipulativen Druck schob. Vor allem seine Freunde wühlten sich immer wieder durch die Papiere, suchten und fanden Widersprüche und neue Zeugen. Sie sammelten Geld für seine Verteidigung, richten ihm eine Homepage ein und verloren nie den Glauben an einen Justizirrtum. Zeitweise hatte Harry bessere Freunde als Anwälte. Auch das geht im Film leider unter, weil die wichtigsten Freundschaften später zerbrachen. An Streit um Geld, an Zweifeln und der langen Zeit des Verdachtes. Das einzige, was Harry Wörz nie hatte, war ein Alibi.

Auch nach fast 17 Jahren gibt es nur Opfer

Der Film setzt vor allem auf die Beziehung zwischen Wörz und seinem hartnäckigen Verteidiger Hubert Gorka, der erst nach dem ersten Urteil zu dem Fall kam. Gorka musste seinen Mandanten erst vom Kampf gegen die Windmühlen überzeugen. Später war es Wörz, der seinen Anwalt in Phasen der Verzweiflung immer wieder motivierte. Einmal sagt der Jurist im Film: "Die machen wirklich, was sie wollen." Das macht es spannend, obwohl der Ausgang der Geschichte kein Geheimnis ist und nie ein Happy End haben wird.

Auch nach fast 17 Jahren gibt es nur Opfer in diesem Fall. "Silke" natürlich, damals 26 Jahre alt, die den wahren Täter vermutlich kennt, aber aufgrund ihre bleibenden Gehirnschäden niemals nennen kann. Sie sieht am liebsten Trickfilme oder die alte Serie "Magnum". Außerdem den gemeinsamen Sohn, der im Film Marc genannt wird. Er ist der einzige Augenzeuge, auch wenn er wahrscheinlich keine eigene verlässliche Erinnerung an die Nacht hat. Über die Jahre geriet er immer mehr zwischen die Fronten, lehnt den Kontakt zu seinem Vater ab und hat, heute 19, inzwischen selbst eine Ausbildung bei der Polizei angefangen.

Harry Wörz hat zwar noch einmal geheiratet und eine Tochter bekommen, aber der lange Kampf macht auch ihn krank. Psychisch arbeitsunfähig lebt er heute von einer kleinen Rente. Nachts findet er nur anderthalb Stunden Schlaf und wünscht sich zumindest im Film, dass nicht nur ihm Gerechtigkeit widerfährt, sondern irgendwann auch seiner Frau und ihrem Sohn. Direkt im Anschluss, ab 21.45 Uhr, ist der echte Harry Wörz neben seinem Anwalt auch bei Anne Will zu Gast, deren Sendung sich nach dem Film mit "Justizirrtümern" beschäftigt.

Die neuen Ermittlungen gegen Silkes damaligen Liebhaber wurden vor einem Jahr eingestellt: "Kein Anfangsverdacht" - der Polizist ist wieder im Dienst. Und so bleibt das Unheimliche an der Geschichte nicht nur, wie schlampig Polizisten im Zweifel ermitteln. Wie stur Gerichte in allen Instanzen über jede Zweifel hinwegsehen, die üblicherweise für den Angeklagten sprechen - und wie langsam die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen. Das Unheimlichste aber ist: Im Zweifel gibt es gar keine Gerechtigkeit. Der Täter läuft - so oder so - frei herum.

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