"Sagst du Bescheid, wenn du zu Hause angekommen bist?" Mit diesen Worten verabschiede ich jede Freundin, die bei mir zu Besuch war und erst zu späterer Stunde den Heimweg antritt. Mir war gar nicht recht bewusst, wie routinemäßig diese Frage Teil der Verabschiedungszeremonie unter Frauen ist. Aber, ja: Ich frage männliche Freunde das nicht. Traurigerweise weiß jede Frau, dass es potenziell riskant ist, abends, nachts oder früh morgens allein durch die Straßen zu laufen. Man kann da tatsächlich neidisch werden, wie es für Männer kein Problem zu sein scheint, einfach die Abkürzung durch den Park zu nehmen oder jederzeit allein joggen gehen zu können. So etwas haben wir uns abgewöhnt.
Aber, wie der Fall der verschwundenen und vermutlich ermordeten Britin Sarah Everard jetzt erneut zeigt: Es ist egal, wie vorsichtig man ist. Es ist egal, ob man schlabberige Klamotten und ausgelatschte Turnschuhe anhat. Es ist egal, dass es erst 21 Uhr und man in einer netten, eigentlich ungefährlichen Gegend unterwegs ist. Es ist leider auch egal, dass jemand weiß, dass man auf dem Heimweg ist, und auf die erlösende "Bin heile angekommen!"-SMS wartet – in Sarahs Fall vergeblich.
Das Handy in der Hand festgekrallt
Teil meines Jobs war es mehrere Jahre lang, sehr regelmäßig auf Konzerten zu sein, um anschließend darüber zu schreiben. Das bedeutete, dass ich oft viermal die Woche erst nachts gegen eins oder halb zwei nach Hause kam. Ich kann nicht aufzählen, wie oft ich das Handy mit der Hand fest umschlossen in der Jackentasche hatte, mich mit dem Gedanken beruhigend, dass ich notfalls schnell meinen Freund oder die 110 anrufen könnte. Der Ratschlag, dass alle Frauen Pfefferspray dabeihaben sollten, war in meinem Fall leider nicht hilfreich, auch wenn es auf mich und meine Nerven definitiv beruhigend gewirkt hätte. In Clubs, Konzerthallen und Arenen ist nicht einmal Deospray erlaubt – da mag ich mir den Blick der Securitymänner beim obligatorischen Taschedurchwühlen gar nicht erst vorstellen, wenn sie eine Dose Pfefferspray finden.
Besonders gruselig war dabei nicht unbedingt die nächtliche Wartezeit an Busbahnhöfen, auch wenn die natürlich gruselig war und man natürlich immer wieder von schrägen Gestalten, meist betrunken oder auf anderen Drogen, angequatscht wurde. Am schlimmsten waren die letzten 50 Meter zwischen "meiner" U-Bahn-Station und meiner Wohnung, die durch eine schlecht beleuchtete und nachts völlig verlassene Straße führten. Irgendwann habe ich mir angewöhnt, die Straßenseite zu wechseln, wenn jemand im Dunkeln hinter mir ging – um zu gucken, ob er sie auch wechselte, weil er mir folgte. Ich glaube nicht, dass Männer sich über so etwas Gedanken machen. Machen müssen.
Solche Erfahrungen hat jede Frau gemacht
Jede Frau, mit der ich gesprochen habe, hatte schon furchteinflößende Erlebnisse irgendeiner Art. Ekelige Taxifahrer, die anzügliche Kommentare abgaben – und somit die Taktik, nachts statt U-Bahn lieber Taxi zu fahren, zunichte machen. Das ist nicht sicherer, leider. Typen, die sich im Bus einfach neben einen setzen und nicht aufhören, einen auf widerlichste Art vollzutexten. Typen, die einen heimlich fotografieren. Die einen auf der Straße, während man bloß nichtsahnend zum Rewe will, anquatschen und sich nicht abschütteln lassen, nicht durch eine höfliche Bitte, nicht durch ein genervtes "Nein" und nicht durch Beleidigungen, wenn man alles andere vergeblich probiert hat. Man gewöhnt sich an, nur noch mit versteinerter Schlechte-Laune-Miene aus dem Haus zu gehen, damit man nur nicht den Eindruck erweckt, man wolle angesprochen werden. Bloß nicht freundlich aussehen. Bloß nicht einladend aussehen.
Der Spruch "Männer haben Angst, dass eine Frau sie auslachen könnte. Frauen haben Angst, dass ein Mann sie umbringen könnte" macht seit geraumer Zeit die Runde durch die sozialen Medien, und er ist auf bitterste Weise korrekt. Natürlich gibt es gewalttätige Frauen, mordende Frauen, aber ihre Zahl ist im Verhältnis zu gewalttätigen Männern derart verschwindend gering, dass ich mich fast schäme, sie hier überhaupt zu erwähnen. Frauen einzuschüchtern, zu belästigen, zu bedrohen, das ist für erschreckend viele Männer nicht einmal ein großes Ding. Ist doch witzig. Ist doch nur Flirten. Sollen die sich mal nicht so anstellen.
Eine Veränderung muss her
Und es ist genau hier, wo eine Veränderung beginnen muss. Wer die Grenzen von Frauen als 16-Jähriger beim "Flirten" schon nicht respektiert, lernt es womöglich nie. Man will gar nicht wissen, wie er sich dann als frustrierter Single mittleren Alters verhält. Bringt schon den Teenagern bei, sich Frauen gegenüber korrekt zu verhalten. Seid kritischer, wenn es um sexistische Werbung, sexistische Witze und Rollenklischees geht. Sprecht aber auch mit Jungs darüber, wie oft Frauen Angst haben (müssen), nur weil sie zufällig in der Dämmerung hinter ihnen gehen. Und schreitet auch im Alltag ein, in scheinbar harmlosen Situationen, wenn euer Kumpel etwa in der Kneipe nach dem dritten Bier penetrant an jemandem rumbaggert. Das könnte helfen, dass nicht nicht mehr erschreckend oft eine "Bist du gut angekommen?"-SMS für immer unbeantwortet bleibt.