Seit fast zwei Jahren lassen Prinz Harry und Ehefrau Meghan alles raus: ihren Frust, ihren Trotz, ihren Kampfeswillen, ihre Verzweiflung. Dem Drang, das Narrativ endlich einmal selbst bestimmen zu können – beziehungsweise es zumindest zu versuchen – geben die Sussexes nahezu komplett nach. Jegliche Grenzen werden scheinbar mit Harrys Autobiografie "Spare" (in Deutschland: "Reserve") gesprengt. Und so erfahren die Leser, dass der Prinz 25 Taliban getötet hat, den ersten Sex hinter einem Pub mit einer älteren Frau hatte und mit 17 das erste Mal Koks nahm.
Zur Sympathie für diesen gebeutelten Mann schleicht sich Fremdscham.
Einmal hinter die Palastmauern gucken zu können, Mäuschen zu sein, wenn sich die Windsors zoffen und versöhnen – das ist der Traum vieler Royal-Beobachter. Genau das liefert der 38-Jährige mit seinem Buch. Und es ist zu viel, viel zu viel. Es ist so, als sei man in eine Episode der Kardashians hineingestolpert, ohne es mitzubekommen. Es wird gelästert, was das Zeug hält. Es fließen Tränen. Und es werden Geschichten ausgepackt, die besser im engen Kreis der Betroffenen hätten bleiben sollen. Sich selbst präsentiert man dagegen in glänzendem Licht, scheinbar unfehlbar. Dass das Quatsch ist, sollte jedem klar sein.
Die spannendere Frage ist spätestens jetzt: Warum?
Prinz Harrys Seelenstriptease: Was hat er davon?
Es hat keinen offenkundigen Nutzen, dass Millionen Menschen auf der ganzen Welt nun wissen, dass Harrys Gespielin seinen Popo tätschelte, nachdem sie ihn entjungferte. Das ist maximal eine skurrile Anekdote für eine Freundesrunde. Welches Motiv könnte hinter dem Seelenstriptease bis unter die Gürtellinie stecken? Mögliche Antworten: Harry könnte dem Hof eins auswischen wollen, indem er publik macht, wofür sich die übrigen Windsors schämen würden. Vielleicht will er auch beweisen, dass ihm jetzt keiner mehr einen Maulkorb anlegen kann, so sehr man sich auch bemüht. Möglicherweise will er die Institution und seine Mitglieder demaskieren, nach dem Motto: Ihr denkt, ich bin der Unruhestifter, schaut mal den Rest der Bagage an, der nur vor der Kamera so makellos ist. Die unbefriedigende Antwort ist jedoch: Das wahre Motiv kennt niemand außer Meghan und Harry – wenn überhaupt.
Harry sagt zwar in einem seiner zahlreichen Interviews zum Buch, dass er nicht ausschließe, zur Krönung seines Vaters Charles im Mai dieses Jahres nach England zu reisen. Bis dorthin verginge noch viel Zeit, in der noch viel passieren könne. Der Ball liege jetzt im Feld seiner Familie. Er sei offen für Gespräche. Aber mal im Ernst: Worüber sollte jetzt gerade gesprochen werden? Warum Harry die Vertraulichkeit der eigenen Familie verraten hat? Und das hat er.
Kritik an der Institution? Selbstverständlich. Kritik an unterschwelligen rassistischen Strömungen innerhalb des Königshauses? Überfällig. Veröffentlichung höchstprivater Geschehnisse? Mindestens fragwürdig. Vielleicht hat sich Harry auch überlegt, all die privaten Geheimnisse zu offenbaren, damit sich die breite Öffentlichkeit mit Themen wie Rassismus, Gleichberechtigung und Vorurteilen auseinandersetzt. Der Zweck heiligt die Mittel. Der Eindruck schleicht sich seit dem berühmt-berüchtigten Interview mit Oprah Winfrey aus dem Frühjahr 2021 ein. Ich erzähle dir ein bisschen privaten Schmutz, wenn ich auch über die Themen sprechen darf, die mir wirklich auf der Seele brennen. Womöglich funktioniert es nur im Paket, weil sich die breite Masse sonst nicht mit gesellschaftspolitisch unangenehmen Themen auseinandersetzen möchte. Dies wäre ein gefährlicher "Deal", denn die Klatschpresse hat jetzt mehr als einen Fuß im Privatleben des Prinzen. Sie dort herauszubekommen, ist eine Sisyphos-Aufgabe. Auch in der Meinung der Royal-Fans sinkt der Wahl-Kalifornier zusehends. Sollte Harry gehofft haben, auf Verständnis und Sympathie zu treffen, hat er sich bei vielen geirrt.