Das Backstage-Zelt, in dem die 57 Models für das große Dior-Defilee vor rund 2000 Gästen vorbereitet werden, ist ein etwa 50 Meter langer, schmaler Schlauch. Zu beiden Seiten reihen sich Biertische, auf denen die Visagisten und Coiffeure ihre Utensilien ausgebreitet haben: Hunderte von Fläschchen mit Make-up-Grundierungen, Malpaletten mit Dutzenden verschiedener Farben, dann Haarteile, falsche Wimpern, Nagellacke, Pinsel.
Die Models sitzen dicht an dicht, an jedem machen sich bis zu drei Leute gleichzeitig zu schaffen: Einer schminkt, einer föhnt, einer lackiert die Nägel. Dazwischen drängen sich Mitarbeiter von Dior, Journalisten, Fotografen, Fernsehteams. Am Ende des Zeltes befindet sich die Loge von Chefdesigner John Galliano, davor ein schwerer Samtvorhang, links und rechts die Bodyguards.
In der Mitte dieses Chaos
steht sehr entspannt und laut lachend Pat McGrath, die Chefvisagistin der Dior-Show. Die derzeit gefragteste Schminkexpertin der Modebranche arbeitet seit 1999 mit John Galliano zusammen. Daneben kreierte sie die Make-up-Linie von Giorgio Armani, ist Kreativdirektorin beim Kosmetikkonzern Procter & Gamble, und nebenbei berät sie Hollywoodstars wie Nicole Kidman und Gwyneth Paltrow in Beauty-Fragen. Die 40-jährige Britin trägt ausnahmslos schwarz und steht zu ihrem Faible für Pralinen. Sie schreitet von Model zu Model und gibt mit sonorer Stimme Anweisungen: Bei Karen Elson bitte etwas mehr Rouge, Erin O'Connor hat einen Pickel - bitte abdecken! Lily Cole "braucht definitiv mehr Lipgloss".
Das Make-up, das sie für diese Show kreiert hat, wird später die Beautyseiten internationaler Modemagazine schmücken, als "Look der Saison" in die Kosmetiklinien von Dior einfließen und von Frauen in aller Welt nachgeahmt werden. Dieser Schminkstil wird erst drei Tage vor der Schau besprochen, wenn fast alle Kleider fertig genäht sind: "John gibt mir ein kurzes Briefing, ich mache ihm Vorschläge und zeige Polaroids." Die, auf denen dann "accepted" steht, werden fürs Defilee benutzt.
Zu Dior ist McGrath mit 40 Koffern Ausrüstung und 20 Visagisten angereist. Ihre Leute betreuen die zusätzlich gebuchten Pariser Visagisten. John Galliano hatte bei seiner Winterkollektion New Yorker "Downtown Girls" im Kopf, McGrath entwickelte dazu drei Make-up-Varianten: Zu Oversize-Pullis und Netzstrümpfen bekommen die Models schwarz umrandete Augen. Bei den Paillettentops und Schößchenjacken bleiben die Augen neutral, dafür sind die Lippen dunkelrot mit einem starken Tupfer Gold. Zu den Abendkleidern in Softeisfarben soll schließlich Naturlook passen mit etwas Lipgloss.
McGrath liebt es, mit Farben und Texturen zu experimentieren, sich über gängige Schminkregeln hinwegzusetzen. So entstand die Idee zu den Goldmündern: "Niemals nur die Lippen schminken, heißt es doch. Ja, dann mache ich jetzt mal nur die Lippen!"
John Galliano gibt seiner Lieblingsvisagistin bei den Vorbereitungen völlig freie Hand, verlässt seine Loge nur einmal ganz kurz. Eine weitere wichtige Person hält sich dagegen permanent im Zelt auf: Dior-Make-upDirektorin Stéphanie Ravillon. Sie schaut sich an, was bei McGrath auf den Schminktischen liegt: "Pat mischt sich die meisten Farben selbst an, wir suchen dann den Weg, die markantesten Kreationen schnell noch in Produkte umzusetzen", erklärt Ravillon, die verantwortet, dass der "Look der Saison" gleichzeitig mit der Modekollektion im Handel ist.
Ihr zur Seite steht
ein Team von 200 Visagisten, Chemikern und Farbdesignern, unterteilt in diverse Arbeitsgruppen: Lippenstift, Lidschatten, Puder, Rouge. Sie alle müssen ausprobieren und erforschen, was sich später verkaufen und von der Endverbraucherin auch benutzen lässt. Welche Kundin würde sich schon, wie Pat McGrath, aus fünf verschiedenen Texturen auf dem Handrücken eine Lippenfarbe zusammenmixen?
Als eine der ersten Kosmetikfirmen hatte Dior 1973 den "Look der Saison" lanciert und sich dabei auf die Entwicklung schier endloser Farbpaletten spezialisiert. Der Konzern ist laut Stéphanie Ravillon weltweit Nummer fünf im Make-up-Bereich, bei Lippenstiften in Europa sogar die Nummer eins. Die sechs Monate vom Defilee bis zum Saisonbeginn reichen natürlich nicht, um eine komplette dekorative Kosmetikserie zu entwickeln. In dieser Zeit können nur noch einzelne Produkte nachgeschoben werden, die sich konkret auf Pat McGraths Make-up-Ideen beziehen. Die Entwicklung der kompletten Kosmetiklinie beginnt 12 bis 24 Monate, bevor das Sortiment in den Handel kommt.
Das Gros der Produkte bezieht sich auf die Kleider von John Galliano, und um früh eine Idee von seinen Visionen für die nächste Saison zu haben, begleitet Ravillon ihn vorher auf Stoffmessen, konsultiert wie er die Stilmagazine internationaler Trendscouts, in denen Farb- und Materialtrends vorausgesagt werden. Und sie befasst sich permanent mit der Geschichte von Christian Dior, der in diesem Jahr 100 geworden wäre. Denn an dessen Leben und Schaffen inspiriert sich auch Galliano immer wieder.
Besonders eng ist die Zusammenarbeit mit der Coutureabeilung für das "Star Product" - ein jede Saison erscheinendes, besonders auffälliges Schmink-Accessoire. Gerade gab es zur Haute-Couture-Taschenlinie "Star" den Schimmerpuder "DiorGlam" im verspiegelten Döschen mit Stern-Anhänger: als Hommage an den abergläubischen Altmeister Dior, der nach dem Krieg einen Eisenstern auf der Straße fand und daraufhin beschloss, sein Modehaus zu gründen.
In der "Backstage"-Linie,
der Produktlinie, die das spektakuläre Show-Make-up für den Hausgebrauch übersetzen soll, wird nach dieser Schau noch der "Style Liner" nachproduziert: ein flüssiger schwarzer Eyeliner, mit einem ganz feinen Pinsel. Die Goldmünder greift "Sparkle Shine" auf, eine Art Siegellack, der die Lippen mit einem feinen Goldschimmer überzieht.
Die Frage, warum er ausgerechnet den Models mit dem aufwendigsten Augen-Make-up für die Show eine Sonnenbrille aufsetzte, wollte Dior-Designer Galliano leider nicht beantworten. Womöglich hat es ihn einfach amüsiert. Nach dem Motto: Es genügt doch, wenn ich weiß, wie viel Arbeit hinter all dem steckt...